Klage gegen Ethik-Unterricht zurückgewiesen

Baden-Württemberg: Klage gegen Ethik-Unterricht zurückgewiesen

Aus: MIZ 3/97

Der Prozeß, den ein mittlerweile volljähriger Schüler und seine Eltern gegen den Ethik-Unterricht als Zwangsfach in Baden-Württemberg angestrengt haben, ist auch in der zweiten Instanz verlorengegangen. Nach Auffassung des baden-württembergischen Verwaltungsgerichtshofes (VGH) ist eine Grundrechtsverletzung weder durch die Konstruktion als Ersatzfach für "Religionsflüchtlinge" noch durch die konkrete Schlechterstellung von Schülern, die diesen Unterricht besuchen, im Schulalltag gegeben. Da die Urteilsbegründung in vielen Punkten auf die Argumentation der Kläger überhaupt nicht eingeht und in einigen Punkten auch juristisch fragwürdig ist, wurde bereits Revision beim Bundesverwaltungsgericht eingelegt.

Der Konflikt geht zurück ins Jahr 1994. Nachdem sich eine größere Anzahl von Schülerinnen und Schülern vom Religionsunterricht abgemeldet hatten, war damals am betreffenden Gymnasium mitten im Schuljahr für die 9.Klassen der Ethik-Unterricht eingeführt worden. Johannes und Ursula Neumann, beide seit Jahren in der Humanistischen Union aktiv, legten daraufhin für ihren konfessionslosen Sohn Widerspruch gegen die Verpflichtung zur Teilnahme ein. Wie nicht anders zu erwarten, ließen sich die Schulbehörden auf keine Diskussion ein und der Fall landete vor Gericht. Das Verwaltungsgericht Freiburg wies die Klage in erster Instanz mit einer ziemlich schlampigen Begründung ab (vgl. MIZ 2/95, S. 32-37), wogegen Berufung eingelegt wurde.

Nach über zwei Jahren hat nun im Juli die Verhandlung vor dem VGH Baden-Württemberg stattgefunden und passend zum derzeitigen politischen Klima im Land wurde erneut gegen die Kläger entschieden. Die Lektüre der Urteilsbegründung jedoch macht deutlich, daß hier weniger Recht gesprochen denn Politik gemacht wurde. Schon die dem Urteil zugrundeliegende Vorstellung, der Ethik-Unterricht sei als "Ersatz-Unterricht" dem Wehrersatzdienst vergleichbar, steht im Widerspruch zu den Bestimmungen des Grundgesetzes. Denn Art. 4 garantiert ja gerade die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit, folglich existiert keine der Wehrpflicht analoge "Religionspflicht". In der Praxis freilich ist aus dem Recht der Eltern, über die Teilnahme ihres Kindes am Religionsunterricht zu bestimmen, für alle Schülerinnen und Schüler, die einer der beiden christlichen Großkirchen angehören, die Pflicht zur Teilnahme geworden. Diese Pflicht zur weltanschaulichen Unterweisung soll mit dem Ersatzfach "Ethik" auf Konfessionslose und Andersgläubige ausgedehnt werden. Da das Gericht diesen Zustand nicht kritisch hinterfragte, sondern gewissermaßen als Rechtsnorm voraussetzte (die Richter sprechen hier von "Pflichtengleichheit" und dem Ausgleich der "Mehrbelastung an Zeitaufwand und Lehrstoff der am Religionsunterricht teilnehmenden Schüler"), konnte es folgerichtig auch keine Diskriminierung und Grundrechtsverletzung konfessionsloser Schüler und Schülerinnen erkennen; maßgebend sei das Aufsichtsrecht des Staates über das gesamte Schulwesen.

Doch nicht nur in dieser zentralen Frage, ob ein individuelles Grundrecht durch ein staatliches Organisationsrecht ausgehebelt werden darf, zementieren die Richter den Status quo, der Konfessionslose zu BürgerInnen zweiter Klasse degradiert. Obwohl der Ethik-Unterricht angeblich eingeführt wurde, um demokratische Grundwerte wie Toleranz und Freiheit allen Schülern zu vermitteln, besteht für Angehörige bestimmter Religionsgesellschaften die Möglichkeit, von dem Fach befreit zu werden. Gerechtfertigt wird diese Ausnahmeregelung mit dem "ausgeprägten Normbewußtsein" der Mitglieder (interessanterweise nicht mit deren "demokratischem Bewußtsein", das bei einer ganzen Reihe der betroffenen Gruppierungen in ihren religiösen Lehren auch nur schwer auszumachen ist). Dieses Recht ist jedoch ebenfalls an die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Glaubensgemeinschaft gebunden; für "freie" Humanisten hingegen führt kein Weg am Ersatzfach vorbei. Eine Benachteiligung dieser Bevölkerungsgruppe ist offensichtlich, trotzdem verneint der VGH einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 GG) - ohne allerdings seine Position auch nur mit einem Nebensatz zu erläutern.

Die ideologische Motivation des Urteils tritt schließlich besonders deutlich zutage, wenn die tatsächliche und rechtliche Schlechterstellung des Ethik-Unterrichts (in der Oberstufe sind Ethik-SchülerInnen in ihren Möglichkeiten bei der Fächerkombination eingeschränkt, ein Leistungskurs Ethik ist nicht vorgesehen) unter Hinweis auf die im Grundgesetz festgeschriebene "Sonderstellung" des Religionsunterrichtes gerechtfertigt wird. Dies stellt die Realität natürlich auf den Kopf, denn der Religionsunterricht wird im Grundgesetz nicht erwähnt, um in irgendeiner Weise vor anderen Fächern herausgehoben zu werden, sondern weil eine konfessionelle Unterweisung an Schulen eines zu weltanschaulich-religiöser Neutralität verpflichteten Staates ansonsten unzulässig wäre. Und als wüßten die Richter um die Schwäche ihrer Argumentation, unterstellen sie dem Kläger vorsichtshalber noch, daß es ihm ja ohnehin nicht darum gehe, den Ethik-Unterricht aufzuwerten.

Bis hinein in die Kostenentscheidung bemühte sich der VGH, den Kläger davon abzuhalten, weiterhin für sein Recht zu streiten. Nicht nur, daß der Streitwert empfindlich heraufgesetzt wurde, zudem kam den Richtern die Idee, daß sie es ja eigentlich nicht mit einem Kläger, sondern deren drei zu tun hätten, wodurch die Gerichtskosten sich nochmal verdreifachen ließen.

Und selbst die Zulassung einer Revision vor dem Bundesverwaltungsgericht kann als Trick interpretiert werden. Denn die besten Chancen auf Erfolg hätten die Angelegenheit sicherlich vor dem Bundesverfassungsgericht, wo die individuellen Grundrechte bei der Entscheidungsfindung erfahrungsgemäß eine große Rolle spielen. Da der Schüler im kommenden Sommer sein Abitur machen wird, entfällt jedoch in einem knappen Jahr die akute Grundrechtsverletzung. Bis dahin wird wahrscheinlich nicht einmal die Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht stattgefunden haben. Zwar ist es prinzipiell möglich, in wichtigen Fällen auf "Feststellung" zu klagen, ob das Bundesverfassungsgericht im vorliegenden Fall von einem (dazu notwendigen) weiterbestehenden Rechtsschutzinteresse ausgeht, läßt sich aber nur schwer einschätzen.

So haben die baden-württembergischen Gerichte eine Strategie vorgezeichnet, wie der Staat für den einzelnen Betroffenen vorübergehende Grundrechtsverletzungen auf Dauer begehen kann, ohne daß die Bürger sich dagegen wehren können. Sofern die Gerichtsverfahren sich länger hinziehen als der beklagte Zustand (hier immerhin fast viereinhalb Jahre), laufen die Betroffenen nicht nur Gefahr, daß ihnen ihr Recht vorenthalten wird, sie bleiben zudem auf den Verfahrenskosten sitzen. Da ein Ethik-Unterricht in Baden-Württemberg erst in den höheren Klassen erteilt wird, für eine endgültige gerichtliche Klärung also nur wenige Jahre zur Verfügung stehen, kann durch die Verschleppung solcher Verfahren ein Präzedenzurteil verhindert werden. De facto bedeutet dies in letzter Konsequenz, daß der Rechtsschutz im Fall des Zwangs-Ethik-Unterrichts aufgehoben wäre, wenn das höchste Gericht dieser Frage keines grundsätzliche Bedeutung beimißt.

gs