Die Aziz-Nesin-Stiftung in der Türkei
Aus: IBKA Rundbrief Mai 2005
[Neuere Artikel: Erwin-Fischer-Preis 2006 für Nesin Vakfi, Nesin-Stiftung von Überschwemmungen getroffen – ergänzt 11.10.2009]
Der atheistische türkische Schriftsteller Aziz Nesin war 1995 kurz vor seinem Tode Gast beim IBKA in Heidenheim. Die Veranstaltung musste damals aus Sicherheitsgründen nichtöffentlich durchgeführt werden. Nach Nesins Tod ist der Kontakt des IBKA zur Nesin-Stiftung in der Türkei – im Unterschied zum bfg München – leider eingeschlafen. Ali Nesin, der Sohn von Aziz Nesin und Leiter der Stiftung, ist Mitglied im IBKA-Beirat.
Um den Kontakt wiederherzustellen und sich über die Arbeit der Stiftung zu informieren, hat der IBKA-Vorstand den Turkologen Prof. Liebe-Harkort zu seiner Koordinationsausschuss-Sitzung im März nach Aschaffenburg eingeladen. Liebe-Harkort ist der Vorsitzende des deutschen Fördervereines der Stiftung, FöNeS, und kennt die Arbeit dort aus vielen persönlichen Aufenthalten.
Aziz Nesin (1915-1995) wurde als Kind anatolischer Immigranten in Istanbul geboren. Er gehört zu den bedeutendsten Autoren zeitgenössischer türkischer Literatur. Berühmt geworden ist er vor allem durch seine bissigen politischen Satiren. In über 200 Prozessen wurde versucht, ihn zum Schweigen zu bringen. Als 1993 in der Kleinstadt Sivas während eines Kulturkongresses Fundamentalisten das Tagungshotel anzündeten und 37 Künstler umkamen, konnte er dem Attentat knapp entkommen. Im August 1994 hatte ihm der Oberste Staatsanwalt der Türkei die Todesstrafe angedroht. Sein umfangreiches Werk wurde in über 40 Sprachen übersetzt und international vielfach ausgezeichnet. Empfohlen hat Liebe-Harkort vor allem "... so geht's nicht weiter. Der Weg beginnt", eine zweiteilige Biographie, und "Surname. Man bittet zum Galgen". 1993 wurde Nesin die Carl-von-Ossietzky-Medaille verliehen. Er war Ehrenmitglied im deutschen und britischen PEN.
Neben der literarischen Arbeit ist Aziz Nesin durch seine entschiedene Einwirkung auf die kultur- und sozialpolitische Landschaft der gegenwärtigen Türkei bekannt. Eins seiner Ziele war, auf die türkische Erziehung Einfluss zu nehmen. Die Nesin-Stiftung, die er im Jahre 1972 gegründet hat, und die "Alternative Universität BILAR", deren Präsident er lange Jahre war, sind das offensichtlichste und konkrete Zeichen dafür.
Sein Werk lebt von der konfliktreichen, oft satirischen Auseinandersetzung mit der Gesellschaft und ihren staatlichen Einrichtungen. Aziz Nesin war kompromisslos in seinem Kampf für die Gerechtigkeit, kompromisslos im Kampf mit den Mächtigen. Zu keiner Zeit ist er zurückgeschreckt, seine Meinung zu äußern, auch nicht in den besonders schweren Jahren nach dem Militärputsch von 1980. Er verbrachte mehrere Jahre in Gefängnissen. Vor allem in den letzten Jahrzehnten seines Lebens wurde Aziz Nesin so viel gelesen, dass er mit seinem Einkommen nicht nur sich und seine Familie ernähren, sondern auch das Heim für Kinder und Jugendliche, die Nesin-Stiftung, ins Leben rufen konnte.
Die Nesin-Stiftung, die auch "Kinderparadies" genannt wird, wurde im Jahre 1972 von Aziz Nesin gegründet. Es handelt sich um eine private Stiftung für Kinder und Jugendliche ohne Familien oder mit solchen Familien, die nicht in der Lage sind, für eine Ausbildung ihrer Kinder zu sorgen. Sie leben zusammen in einem Kinderdorf. Die Stiftung ist westlich von Istanbul angesiedelt, bei Çatalca. Sie liegt auf einem Grundstück von ca. 15 000 qm. Derzeit leben hier 40 Kinder und Jugendliche, beiderlei Geschlechts und jeden Schul-, Ausbildungs- und Studienalters.
Aziz Nesin hat seine pädagogischen Prinzipien in seinem Werk "Korkudan Korkmak" (Die Angst vor der Angst) verfaßt. Hier einige Auszüge aus der 40-seitigen Abhandlung:
- Ich will, dass meine Kinder in der Stiftung entsprechend ihren Fähigkeiten zu konstruktiven und schöpferischen Menschen erzogen werden.
- Ich will, dass meine Kinder in der Stiftung mit kritischem Blick auf die Welt, die Menschen und die Ereignisse schauen.
- Ich will, dass meine Kinder in der Stiftung ohne Strafen aufwachsen. Es gibt in der Nesin-Stiftung keine Verbote. Von allen Ländern der Welt gibt es in der Türkei die meisten Verbote, und sie ist gleichzeitig das Land, in dem Verbote am häufigsten missachtet werden. Je mehr Verbote es gibt, umso öfter werden sie übertreten. Ich wünsche, dass in der Nesin-Stiftung weder Verbote aufgestellt noch angewendet werden, solange ich lebe und nach meinem Tod.
- Die Kinder müssen das Recht haben, verwöhnt zu werden. Die kleinen Kinder sollen ausreichend in der Nesin-Stiftung verwöhnt werden. Die Kinder aber, die nach diesem Alter in die Stiftung kommen, sollen in einer Form, die den Mangel in der Verwöhnungszeit zudeckt, Liebe, Zärtlichkeit und Vertrauen erfahren.
- Die Kinder in der Stiftung sollen lernen, was es heißt, in der Schuld der Gesellschaft zu stehen.
- Ich möchte, dass meine Kinder in der Stiftung Liebe zu sich selbst empfinden können, dass sie in dieser Liebe und in Selbstachtung heranwachsen.
- Ich möchte, dass meine Kinder in der Stiftung von der neurotischen Angst befreit werden und ein Leben weit entfernt davon führen.
- Ich wünsche mir, dass meine Kinder in der Stiftung, wenn sie einmal im Leben stehen, eine Arbeit verrichten werden, die sie lieben.
- Ich bemühe mich darum, dass meine Kinder der Stiftung im Denken und Verhalten eigenständig werden.
- Ich will, dass meine Kinder in der Stiftung eine reiche Phantasie entwickeln und große Visionen haben.
- Es gibt eine sehr schlichte Wahrheit, die ich meine Kinder lehren will: Das Leben ist ein Kampf. Arme haben nur eine Verteidigungswaffe und nur ein Mittel zum Erfolg: arbeiten. Uns rettet allein das Arbeiten.
In Berlin-Kreuzberg gibt es seit einigen Jahren eine nach Aziz Nesin benannte Grundschule. Es ist eine von 14 Europaschulen in Berlin, die in einem Schulmodell Schüler zweier Staaten gleichberechtigt in beiden Sprachen unterrichten. Um die Namensgebung hatte es eine heftige Auseinandersetzung mit vor allem fundamentalistischen Muslimen gegeben, an deren Ende es auch einige Schulwechsel gegeben hat.
Aziz Nesin hat sich schon zu seinen Lebzeiten dafür eingesetzt, entgegen den Vorschriften auf einem unbekannten Ort auf dem Stiftungsgelände begraben zu werden. Die staatlichen Behörden haben dem schließlich nachgegeben.