Freigeistige Kultur in Deutschland
Eine ausgezeichneten kulturgeschichtlichen Überblick über die Entwicklung säkularistischer Strömungen in Deutschland
bietet:
Horst Groschopp: DISSIDENTEN. Freidenkerei und Kultur in Deutschland.
Dietz-Verlag, Berlin 1997, 448 Seiten ( DM 48.-)
Der Autor, Kulturwissenschaftler, bis 1996 am Institut für Kulturwissenschaften der Humbold-Universität, Berlin, seit 1990
befaßt mit Forschung und Lehre zum kulturellen Wandel in Ostdeutschland, zur deutschen Freidenkerei und zur Geschichte von
Kulturpolitik und Kulturarbeit in Deutschland, beschreibt die Wurzeln, die gesellschaftliche Bedeutung und die vielfältigen
Verästelungen freidenkerischer Kultur im Deutschland des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zurückgreifend bis zu
dem 1759 erschienenen Freydenker-Lexicon von Johann Anton Trinius geht er den Motiven, Organisationen und Aktionen der
"Dissidenten", also der von staatlich gestützter Konfessionalität Abtrünnigen, nach. Das Buch zeigt, wie sich freidenkerische
Kulturauffassungen, Kunst, praktische Kulturarbeit, Kulturpädagogik und Jugendpflege zwischen Vormärz und Novemberrevolution
formten und politisches Handeln begründeten. Seine Kristallisation fand die Entwicklung im "Weimarer Kartell" der deutschen
Freidenkerei, das 1907 begründet worden war. In ihm sammelten sich Vereinigungen, Bünde und Ortsgruppen von Vereinen, die
vornehmlich kulturpolitisch tätig wurden - allerdings nicht als Gesamtverband - koordiniert von einem ständigen Ausschuß. Zu
dieser illustren Versammlung von geistigen Individualisten und weltanschauöichen Gruppierungen, wo "Selbstständigkeit und
Eigenart jedes einzelnen Vereins unangetastet" bleiben sollten, gehörten u.a.: die Deutsche Gesellschaft für Ethische Kultur,
der Deutsche Monistenbund, der Deutsche Bund für Mutterschutz, der Deutsche Bund für weltliche Schule und Moralunterricht, der
Deutsche Freidenkerverband. Als "verwandte" Organisationen galten u.a. der Bund freireligiöser Gemeinden Deutschlands, der
Zentralverband der proletarischen Freidenker Deutschlands, der Freimaurerbund Zur Aufgehenden Sonne.
H. Groschopp behandelt auch die sich mit dem ersten Weltkrieg abzeichnenden tiefen Zerwürfnisse und Auflösungstendenzen,
u.a. als sich eine pazifistisch gesonnene Minderheit den deutschnationalen Tendenzen widersetzte, als die Verfassung von 1918
das Ende der Staatskirche verfügte und schließlich die "Deutschgläubigkeit" zu einer der ideologischen Stützen des
heraufziehenden Naziregimes wurde und "völkische" gegen "sozialistische" Politisierung stand. Tendenzen und Differenzen in der
freidenkerischen Tradition der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg behandelt ein Schlußkapitel, das nicht den Anspruch einer Studie
erhebt und nach differenzierter Fortführung verlangt.