Kirchenrecht als Staatsdoktrin? Der katholische Codex Iuris Canonici
Aus: MIZ 2/87
Der Präsident der Freidenker-Vereinigung der Schweiz, Adolf Bossart, wies uns kürzlich auf ein ihm zugänglich gemachtes, bisher unveröffentlichtes Manuskript über das neue katholische Kirchengesetzbuch, den "Codex Iuris Canonici" (im folgenden Codex), hin. Der Autor, ein angesehener Schweizer Jurist und Kirchenkritiker, ist der MIZ-Redaktion bekannt. Wir veröffentlichen den Beitrag in leicht redigierter Fassung mit freundlicher Genehmigung des Verfassers, der nicht genannt werden will.
Dem Artikel über den neuen Codex aus dem Jahr 1983 stellen wir einen Abschnitt aus der vor fast 50 Jahren gedruckten Broschüre "Das schwarz-rot-goldene Konkordat" von Peter Maslowski voran, die kurz vor Abschluß des Preußenkonkordats (1929) erschienen ist und sich mit dem Einfluß des damaligen Kirchengesetzbuches von 1917 auf Kirche und Politik befaßt. Maslowski, Autor des Buches "Das theologische Untier" (IBDK-Verlag, 1978), Gründungs- und Ehrenmitglied des Internationalen Bundes der Konfessionslosen und Atheisten, hat als Reichstagsabgeordneter, Politiker und Journalist immer wieder auf die herausragende Bedeutung des Codex für das Verhältnis von Staat und Kirche hingewiesen – stets vergebens. Maslowski, der vor 1933 nicht einmal in den eigenen KPD-Kreisen engagierte Mitstreiter fand, konnte weder den Abschluß des Preußenkonkordats (1929) unter dem sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Otto Braun und erst recht nicht – als von den Nazis Ausgebürgerter – das Reichskonkordat zwischen Hitler und dem Vatikan (1933) verhindern. Maslowski plante nach dem zweiten Weltkrieg die Herausgabe einer umfangreichen Dokumentation zum Codex Iuris Canonici, konnte diese aber nicht mehr fertigstellen.
Beide Beiträge unterstreichen die nach wie vor überragende Rolle des Codex, die dieser für die Papstkirche in ihrem Bestreben spielt, Staat und Gesellschaft nach ihren hirarchischen Vorstellungen zu gestalten.
MIZ-Redaktion
Der Codex Iuris Canonici als Konkordatsgrundlage
Angesichts der Geheimniskrämerei, die bewußt und systematisch in der Konkordatsfrage betrieben wird, ist es außerordentlich wichtig, auf die Grundsätze hinzuweisen, nach denen die Papstkirche überall in der Welt vollkommen gleichmäßig arbeitet.
Der Vatikan besitzt seit dem Jahre 1917 ein einheitliches Gesetzbuch. Es ist der Codex Iuris Canonici, der mitten in den Wirren des Weltkrieges, als alle Mächte schwankten, Throne zu zersplittern begannen, proletarische Revolutionen in vielen Ländern im Anzug waren, erschienen ist. Dieser Codex Iuris Canonici ist nur der äußere Ausdruck der allerstärksten ideologischen und organisatorischen Machtkonzentration in der Hand des römischen Papstes. Jetzt erst war das Unfehlbarkeitsdogma vom Jahre 1871, das seinerzeit noch bei der liberalen Bourgeoisie soviel Widerstand gefunden und das man heute längst stillschweigend geschluckt hat, wirklich praktisch wirksam gemacht worden.
Dieser Codex Iuris Canonici ist also die eigentliche und die wichtigste Quelle, aus der man die vatikanischen Konkordatsabsichten erfahren kann. In diesem Gesetzbuch des kirchlich sanktionierten "Rechts" steckt die klerikale Grundidee, auf die bei allen konkordären Finanzforderungen zurückgegriffen wird: Der Staat hat in der Kirche nichts zu sagen; da aber die Religion das zusammenhaltende Band für einen Staat sei, müsse der Staat aus eigenem Interesse die Kosten für die Religion und die Kirche tragen. Diese Grundidee wird, jeweils nach den taktischen Besonderheiten variiert, bei allen finanziellen Forderungen in einem Konkordat die entscheidende Rolle spielen.
In diesem kanonischen Recht sind weiter endgültig alle nationalen Sonderrechte der Bischöfe beseitigt. Nur noch der Papst allein ist die allerhöchste Instanz, die mit Staaten völkerrechtliche Verträge schließt, weswegen auch irgendwelche konkordären Abmachungen mit Landesbischöfen und das Mitbestimmungsrecht des Staates bei der Ernennung der Bischöfe von päpstlicher Seite abgelehnt wird. Diese Tatsache ist so markant, daß sogar aus den Kreisen des deutschen Klerus sich ein schwacher Widerstand gegen das alleinige Ernennungsrecht des Papstes bemerkbar gemacht hat, denn es ist seit Jahrhunderten in der katholischen Kirche üblich gewesen, daß die Bischöfe durch das Domkapitel gewählt wurden.
In dem päpstlichen Codex sind ferner jene eherechtlichen Bestimmungen enthalten, die die staatliche Zivilehe nicht anerkennen und die Gültigkeit der Ehe nur für den Fall der kirchlichen Trauung verlangen. Das päpstliche Organ "Osservatore Romano" hat diese kanonischen Eherechtsbestimmungen durch folgende vier Punkte richtungsweisend für Konkordatsverhandlungen festgelegt:
1. Die Zivilehe darf für getaufte Christen nicht obligatorisch gemacht werden.
2. Der Staat muß die vor der Kirche geschlossene gültige Ehe gleichfalls als gültig ansehen.
3. Der Staat muß alle Ehen als gültig betrachten, welche das göttliche und das kirchliche Recht als gültig ansieht.
4. Der Staat darf diejenigen getauften Christen, welche nach kirchlichen Gesetzen keine Ehe eingehen dürfen, nicht zu bürgerlichen Eheschließungen zulassen.
Es ist im Hinblick auf diese päpstliche Anmaßung im Zusammenhang mit dem Preußenkonkordat bezeichnend, daß bei den Konkordatsverhandlungen mit der preußischen Staatsregierung der deutsche Kanonist Friedrich Heyer mitwirkt, der erst kürzlich geschrieben hat: "Eine Änderung des in Deutschland geltenden staatlichen Eherechts anzustreben, ist eine der wichtigsten Aufgaben der deutschen Katholiken".
Im Zusammenhang damit sei auch darauf hingewiesen, daß in der dritten Auflage des katholischen Staatslexikons offen folgende Sabotage der weltlichen Ehegesetzgebung des Staates katholischen Richtern anbefohlen wird: "Jedenfalls muß aber der katholische Richter, wenn er seinen Amtspflichten sich nicht entziehen kann, sein Möglichstes tun, um die kirchliche Auffassung der Ehe zum Ausdruck zu bringen".
Eindeutig formuliert das kirchliche Gesetzbuch auch die Standesvorrechte des Klerus gegenüber der Laienwelt. Der Klerus darf nach kanonischem Recht nur der kirchlichen Gerichtsbarkeit, nicht der Jurisdiktion des Staates unterworfen werden.
Vor allem aber nehmen die Schulbestimmungen des Kirchenrechts die konkordären Forderungen auf schulischem Gebiet voraus. Es wird in den einzelnen Artikeln festgelegt, daß die Kirche zu jeder Zeit vom Staat die Errichtung konfessioneller Schulen verlangen kann, daß katholische Kinder nur konfessionelle Schulen besuchen dürfen und nur in Ausnahmefällen nach Genehmigung durch den Pfarrer evtl. auch Simultanschulen, daß die Bischöfe zu jeder Zeit das Recht haben, den Religionsunterrricht zu visitieren und darüber hinaus überhaupt den ganzen Schulbetrieb zu kontrollieren, ob etwas "gegen die guten Sitten" verstößt.
Fassen wir die kanonischen Bestimmungen, die für ein Konkordat bedeutungsvoll sind, zusammen, so ergeben sich folgende Grundforderungen, die selbstverständlich auch ein Nuntius Pacelli im Preußenkonkordat durzusetzen versucht:
- Bewilligung aller finanziellen Ansprüche der Kirche,
- restlose Freiheit kirchlicher Ämterbesetzung,
- Kirchenaufsicht über die Schulen,
- Standesvorrechte für den Klerus und
- Vorrecht der kirchlichen Ehe vor der staatlichen Zivilehe.
Im übrigen sind sich die deutschen Zentrumsführer auch vollkommen klar darüber, daß die Richtlinien eines Konkordatsabschlusses einzig und allein im Codex Iuris Canonici gegeben sind. Schon am 28. Februar 1919 hat der Zentrumsführer Dr. Spahn deutlich genug in der Nationalversammlung erklärt: "Durch den Codex Iuris Canonici vom Jahre 1917 sind die rechtlichen Verhältnisse der Katholiken – zu ihnen gehören auch die Schulverhältnisse – auf der ganzen Welt einheitlich und gleichmäßig geregelt."
Jawohl, der Vatikan erstrebt eine einheitliche Regelung der Konkordatsfrage in allen Ländern. Nur bewußte Betrüger, Dummköpfe oder solche Politiker vom Schlage Otto Brauns, die aus durchsichtigen Koalitionsgründen die Harmlosigkeit eines Konkordats vortäuschen müssen, können angesichts dieser Lage davon sprechen, daß etwa ein Preußenkonkordat viel ungefährlicher sei als ein litauisches, lettländisches, polnisches, italienisches oder sonst irgend ein ausländisches Konkordat.
(In: Peter Maslowski, Das schwarz-rot-goldene Konkordat, Berlin 1929, Internationaler Arbeiter-Verlag.)
Kirche bleibt Kirche – Das neue katholische Gesetzbuch
Konziliant in der Form – Kompromißlos im Inhalt
Wo im folgenden Text Zahlen in Klammern stehen, sind damit die Canones gemeint, die unseren Paragraphen oder Artikeln entsprechen. Die Zahl nach dem Schrägstrich bezieht sich auf den jeweiligen Absatz, in den Canones mit § bezeichnet.
Das neue katholische Kirchengesetzbuch (Codex Iuris Canonici, im folgenden einfach Codex genannt), in Kraft seit 1983, verdankt seine Entstehung der Liberalisierungstendenz des Papstes Johannes XXIII. So sind beispielsweise die Strafbestimmungen des Codex nicht unwesentlich gelockert worden. Die Stellungnahme zur ökumenischen Bewegung ist – zumindest dem Wortlaut nach – recht positiv gehalten. Vor allem ist die Sprache gegenüber der früheren Fassung des Codex konzilianter geworden. Die Stellung der Bischöfe ist rethorisch stark aufgewertet worden, faktisch ist ihre Abhängigkeit von Rom fast absolut geblieben. Verschiedenes, was die Konfessionen früher trennte, ist nun abgeschafft worden. Ein charakteristisches Detail der Modernisierung ist zum Beispiel der Umstand, daß die Feuerbestattung zwar weiterhin verpönt bleibt, jedoch – zwar recht verklausuliert ausgedrückt – nicht mehr verboten ist (1176/3).
Wer den Codex wirklich studiert, wird aber rasch feststellen, daß die neue Fassung in Tat und Wahrheit weit hinter den Erwartungen fortschrittlicher Katholiken zurückgeblieben ist. An den bisherigen Grundlagen und am Selbstverständnis der katholischen Kirche ist auch mit dem neuen Codex nichts Grundsätzliches geändert worden. Es wäre übrigens falsch zu glauben, alles, was nicht mehr im Codex enthalten ist, sei aufgehoben. Die vorgenommenen Änderungen erwiesen sich im wesentlichen als reine Kosmetik. Ihre Fundamente, auf die die Papstkirche nicht verzichten will, sind genau die selben geblieben; aber auch manch andere Charakteristika der katholischen Kirche wurden neu bestätigt. Sie hat sogar an weniger fundamentalen Positionen festgehalten, von denen sie weiß, daß sie damit zum Beispiel im protestantischen Lager wenig Gegenliebe findet. Ob und inwieweit tatsächlich eine wesentliche Wandlung der Kirche eingetreten ist, läßt sich allerdings aus dem Codex nur in beschränktem Maße erkennen. Ein abschließendes Urteil läßt sich darüber nur bilden, wenn neben dem Codex auch die Beschlüsse des II. Vatikanischen Konzils (1963-1965) konsultiert werden, die ja auch die Grundlage des Codex bildeten. Deshalb nehmen die nachstehenden Feststellungen immer etwa auch Bezug auf jene Konzilsbeschlüsse, die uns im "Kleinen Konzilskompendium", herausgegeben von den Jesuiten Karl Rahner und Herbert Vorgrimmler, vorliegen (nachstehend mit dem Namen Rahner zitiert).
Im folgenden Überblick soll nun gezeigt werden, daß die katholische Kirche auch nach dem neuen Codex ganz die alte geblieben ist:
Die allein wahre Kirche
Die Kirche versteht sich gemäß dem neuen Codex nach wie vor als die allein wahre christliche Kirche, im Besitz der allein seligmachenden Religion, als das – wie der Codex sagt – "universale sakramentum salutis", das heißt, Quelle des Heils für alle Menschen (204/2 sowie Inkraftsetzungsdokument Seite XII und allenthalben). Zwar gesteht die Kirche heute gnädigerweise zu, daß auch andere Religionen "nicht selten einen Strahl jener Wahrheit erkennen lassen", die die katholische Kirche verkünde. Aber sowohl im Codex selbst als auch – noch deutlicher ndash; in den Konzilsbeschlüssen wird der allein seligmachende Charakter der katholischen Religion erneut mit aller Schärfe betont. So kann zum Beispiel das Ziel der Ökumene aus der Sicht der katholischen Kirche nur in der Rückkehr aller "getrennten Brüder" in den Schoß der allein wahren katholischen Kirche bestehen (Rahner, S. 232–233).
Die katholische Kirche versteht sich auch nach dem neuen Codex nach wie vor als die alleinige Besitzerin und Hüterin der vollen metaphysischen "Glaubenswahrheiten" (747/1).
Alleinige Besitzerin der Wahrheit
Die katholische Kirche hält sich auch nach dem neuen Codex – eher noch ausgeprägter als bisher – für zuständig, zu bestimmen, was recht und gerecht ist; sie hält sich folglich auch für befugt, alle staatlichen Rechtsordnungen verbindlich zu beurteilen. Die katholischen Politiker sind daher in ihrer legislativen Arbeit nie wirklich frei, sondern im Sinne des Codex von einer auswärtigen Macht abhängig, wie zum Beispiel in der Frage des Schwangerschaftsabbruchs. Die Kirche ist aber klug genug, nur dort einzuschreiten, wo es die politische Konstellation in einem Staat als aussichtsreich erscheinen läßt.
Machtanspruch gegenüber dem Staat
Getreu dem Grundsatz des der Kirche nicht zufällig so wichtigen Apostels Paulus versteht sie sich namentlich auch den Staaten gegenüber als diejenige Instanz, die "alles beurteilt, selber aber von niemandem beurteilt wird" (1. Kor. 2/15). Sie erklärt sich gerade auch im neuen Codex als von jeder anderen Macht unabhängig. Das ist ohne Beispiel im Staatsrecht; besser gesagt: ein staatsrechtliches Unding, da dieser Machtanspruch zur Souveränität eines Staates im unlösbaren Widerspruch steht.
Nach unbestrittenen Grundsätzen ist jede andere Institution innerhalb bestimmter Staatsgrenzen voll und ganz den staatlichen Normen und Behörden unterstellt. Wenn eine Institution vom Staat gar Geld bezieht (wie dies bei der katholischen Kirche in großem Umfang der Fall ist), ist es in jedem Staatsrecht erst recht eine Selbstverständlichkeit, daß sie dem Staat dafür Rechenschaft abzulegen hat. Nur die katholische Kirche beansprucht für sich etwas anderes und will ein Staat im Staate sein, ja über ihm stehen; als die Macht aller Mächte, mit der Befugnis souverän Kaiser und Könige abzusetzen, wenn sie das für "nötig" hält. Sie pocht auf ihre absolute Selbstständigkeit, auf die Souveränität jedes Bischofs. Sie läßt sich sogar dort nicht in die Karten blicken, wo es sich um das Geld andersdenkender Bürger handelt. Die staatlich anerkannten Kirchen haben diesen Grundsatz zum Beispiel im Kanton Zürich auf eine geradezu "klassische" Weise durchgesetzt, indem sie vom Kanton aufgrund fabulöser "historischer Rechtstitel" unter anderem millionenschwere Jahrespauschalen zu beliebiger, aufsichtsfreier Verwendung ertrotzten – und anstandslos erhalten. Es ist erstaunlich, daß solche Ungeheuerlichkeiten von den – für das Geld der Steuerzahler verantwortlichen – Politikern widerspruchslos hingenommen, ja zum Teil sogar nachdrücklich unterstützt werden.
Vor allem betont auch der neue Codex wiederum die Vision der Kirche, derzufolge ihr von Gott der Auftrag erteilt worden sei, überall in der Welt gegenüber allen Menschen in allen Lebensbereichen die unumschränkte Herrrschaft ausüben zu müssen beziehungsweise alles in ihren Gesetzen zu normieren (z. B. 747).
Anspruch auf Weltherrschaft
Die Kirche versteht diese Aufgabe als eine strenge Verpflichtung und Sendung. Deshalb erklärt sie auch selber, die katholische Kirche sei ganz und gar eine missionarische Kirche (781). Sie fühlt sich deshalb verpflichtet, alles zu unternehmen, um diesen Herrschaftsanspruch auch zu verwirklichen, das heißt ihre Macht auf die ganze Welt auszudehnen, Konkurrenten auszuschalten, unbedingt zu verhindern, daß sie an Boden verliert, und alles daranzusetzen, um immer neues Terrain zu gewinnen, um ihre Machtposition um jeden Preis zu sichern und auszubauen (vgl. statt vieler can. 791). Der Codex ist voll von Bestimmungen, die diesem Ziel dienen, so sehr, daß der Eindruck entsteht, es gehe der Kirche weniger um das Seelenheil ihrer Schäfchen als um ihr ungehindertes Wachstum.
Erziehung im Dienste der Mission
Natürlich werden vor allem die Kleriker darauf verpflichtet, ihre ganze Kraft für das Wachstum der Kirche einzusetzen (z.B. 782 und 783).
Darüber hinaus wird allen katholischen Vereinen und Werken die Pflicht auferlegt, diesem Ziel zu dienen (329, 713). Auch den Eltern und Paten wird eine "sehr schwere" (gravissima) Pflicht in dieser Beziehung auferlegt (226/2, 794 i.V. mit 1136). Sie werden dabei noch besonders verpflichtet, ihre Kinder in katholischen Schulen ausbilden und erziehen zu lassen (798). Hierzu gehört auch die Bestimmung, daß die Eltern streng angewiesen sind, die Säuglinge sofort nach der Geburt taufen zu lassen (867) und daß Findlinge in jedem Fall kurzerhand katholisch getauft werden müssen. Auch müssen Katholiken noch als Kinder "gefirmt" und schon bei dieser Gelegenheit auf missionarischen Einsatz festgelegt werden (891 i.V. mit 879).
Der neue Codex nimmt sich ganz besonders der Unterrichtsanstalten aller Stufen, besonders der Mittelschulen und Universitäten an, die er für das erwähnte Ziel in Pflicht nimmt (796ff.). Sogar die Universitäten sollen der Glaubenspropaganda dienstbar gemacht werden (807), und an den nichtkatholischen Hochschulen sollen katholische Zentren errichtet werden (813). Katholische Vereine und fromme Werke – abgesehen von den spezifischen Missionswerken – werden vermehrt zu der Unterstützung der katholischen Mission eingesetzt. Alle Gläubigen werden im Codex immer wieder an ihre Pflicht ermahnt, sich für die Ausbreitung der katholischen Religion einzusetzen (210, 223 ff., 327–329).
Die politische Kirche
Dem erwähnten Zweck dient es vornehmlich auch, daß die katholische Kirche nach wie vor eine politische Kirche ist. Sie setzt die üblichen politischen Mittel ein (mit noch größerer Erfahrung als alle anderen politischen Mächte), wie etwa die politischen Parteien, die sie aus dem Hintergrund klug beherrscht, ferner ihre "auswärtigen" Ämter und diplomatischen Vertreter sowie ihre Informationsstellen. Die katholischen Laien werden eindringlich zur "katholischen Aktion", zum "Apostolat", verpflichtet und dafür in jeder Weise ausgerüstet.
"Politisch durch und durch, verkündet sie (die katholische Kirche) unentwegt, daß sie mit Politik nichts zu schaffen habe". So der katholische Theologe Adolf Holl (in: "Universale Religion", Herrischried, Nr. 9/1986, S.17). Der Papst reist in alle Welt mit der Behauptung, es handele sich ausschließlich um seelsorgerische Reisen; aber jederman weiß, daß es mindestens ebensosehr politische Reisen sind.
Wer die Medien hat...
Besonderes Gewicht legt der neue Codex naturgemäß auf die Bemühungen um die Massenmedien, da selbstverständlich auch die katholische Kirche weiß: Wer die Massenmedien hat, hat die Macht (822 ff.). Zensur (z.B. 823) und Boykott nicht-genehmer Zeitungen und Zeitschriften (831) werden nach wie vor großgeschrieben.
Die katholische Kirche ist mithin mehr denn je wieder eine proselytische Kirche, in der heute nicht mehr nur die Kleriker, sondern vermehrt auch alle Gläubigen angehalten werden, bei jeder Gelegenheit für die Kirche zu werben.
Menschenrechte aus katholischer Sicht
Mit den berüchtigten Modernistendekreten hat die katholische Kirche noch um die Jahrhundertwende die bürgerlichen Freiheitsrechte, im besonderen die Religionsfreiheit, aber auch die Staatsform der Demokratie, in Grund und Boden verdammt und als Gottlosigkeit gebranntmarkt. Das ist wohl der Punkt, der in erster Linie die Politiker interessieren dürfte. Die meisten von ihnen sind überzeugt, die katholische Kirche habe sich gerade in dieser Beziehung grundlegend gewandelt.
Tatsächlich betont der neue Codex die Gleichheit aller Gläubigen, ja aller Menschen (Vorrede S. XLIII sowie can. 208, Rahner 457) sowie die Menschenwürde, die Religionsfreiheit und ganz allgemein die Rechte aller Bürger. Was die Religionsfreiheit anbelangt, hat das Konzil mit der sogenannten "Erklärung über die Religionsfreiheit" eine gewisse Wende vollzogen und anscheinend ein Signal gesetzt. Man hört daher nicht selten, die katholische Kirche profiliere sich heute geradezu als Vorkämpferin der Menschenrechte, der Freiheitsrechte und der Würde der menschlichen Person. Die Politiker und manche Zeitungsleute übersehen aber, daß die katholische Kirche die Fähigkeit eines Chamäleons besitzt, sich in ihrem Aussehen den äußeren Umständen anzupassen, ohne sich dem Wesen nach im geringsten zu ändern. Das ist gerade mit Bezug auf jenes Grundrecht der Menschen der Fall, die auch der neue Codex wieder mit Füßen tritt, wovor aber viele Politiker und Zeitungsmacher einfach die Augen verschließen:
Was zum Beispiel die Religionsfreiheit anbelangt, bestätigt der katholische Kirchenrechtler Knut Walf (in: Ostschweiz 16. Oktober 1982), daß die Kirche mit ihrer Religionsfreiheit nur die Freiheit der Kirche und die Freiheit der Gläubigen, katholisch zu sein, proklamiert, aber keineswegs eine allgemeine Religionsfreiheit, ja daß sie die Religionsfreiheit ihrer Gläubigen sogar total verneint. Ihre Religionsfreiheit ist letztlich bloß ein politisches Druckmittel zu ihren Gunsten, in Gebieten, in denen sie sich in einer Minderheitsstellung befindet. Sogar im Konzil ist auf die penible Situation hingewiesen worden, daß die Kirche in solchen Staaten die religiöse Freiheit fordere, in mehrheitlich katholischen Ländern aber den Bürgern die gleiche Freiheit verweigert.
Glaubensgehorsam
Von ihren Gläubigen verlangt die Kirche erneut und mit unverminderter Schärfe den Glaubensgehorsam gegenüber der Hierarchie beziehungsweise auch jedes der unteren Hierarchen gegenüber dem übergeordneten (vgl. 212, 227, 386, besonders auch 752 ff.). Zitat: "Can. 212 § 1. Was die geistlichen Hirten in Stellvertretung Christi als Lehrer des Glaubens erklären oder als Leiter der Kirche bestimmen, haben die Gläubigen im Bewußtsein ihrer eigenen Verantwortung in christlichem Gehorsam zu befolgen."
Aber auch in den Konzilskonstitutionen über die Kirche und über die Bischöfe wird der Glaubensgehorsam noch und noch betont. Hierher gehört auch, daß Katholiken die Bibel nach wie vor nur mit kirchlichen Anmerkungen lesen dürfen (825). Häretiker und Schismatiker (gemäß 751 jene, die sich weigern, sich dem Papst unterzuordnen) und erst recht Apostaten (Abtrünnige) werden von der Kirche nach wie vor mit kirchlichen Strafen bedroht, auch wenn diese im neuen Codex etwas weniger schroff formuliert sind (vgl. 1364ff. und 1371). Die Kirche nimmt für sich nach wie vor das Recht in Anspruch, Ungehorsame zu "beugen" ("coercere" = "Zwang ausüben"), wie sie es selber formuliert (1311).
Mit der Religionsfreiheit unvereinbar sind sodann die bereits erwähnte strenge Pflicht der Eltern, die Säuglinge sofort nach der Geburt taufen zu lassen (867) und die – ebenfalls bereits angeführte – undifferenzierte Pflicht, Findelkinder katholisch zu taufen (870). Bei Todesgefahr darf jedes Kind, auch nichtkatholischer Eltern, sogar gegen deren Willen katholisch getauft werden (868/2).
Ebenso freiheitswidrig ist die Bestimmung, wonach ein einmal getaufter Katholik nie mehr gültig aus der Kirche austreten kann (849). (Die Praxis ist nur eine widerwillige Konzession an die heutige Rechtsordnung, die die Kirche zu ihrem Unwillen nicht ändern kann; am Prinzip wird jedoch eisern festgehalten. Dogmatisch gibt es keinen Kirchenaustritt.)
Schlecht verträglich mit der so laut proklamierten Religionsfreiheit beziehungsweise mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung ist es auch, daß den katholischen Hochschuldozenten nur eine "gerechte Lehrfreiheit" (lusta libertas) eingeräumt wird (218), also im Grunde überhaupt keine Freiheit, wobei die Kontrolle darüber, wer lehrt und was er lehrt, im neuen Codex noch massiv verschärft und gesichert worden ist (vgl. z. B. 810)
Hierarchische Struktur
Und was die Gleichheit aller Menschen betrifft, die gerade der heutige Papst ebenfalls gern im Munde führt, gilt dieses Prinzip der Kirche nur für andere, niemals für sie selber. Bei ihr ist von Gleichheit keine Spur, wenn man nur an die hierarchische Struktur denkt oder etwa daran, wie in den Konstitutionen des II. Vatikanischen Konzils der unendliche Unterschied zwischen Priestern und Laien formuliert worden ist, besonders in der Konstitution über die Kirche (vgl. dort z.B. die Nummern 24-28). Dazu kommt noch die Ungleichheit von Mann und Frau, indem Frauen der Zugang zur Hierarchie nach wie vor absolut versperrt wird.
Und was die übrigen Menschenrechte und die Würde der menschlichen Persönlichkeit anbelangt (vgl. dazu z.B. 768/2), schlagen diesen Rechten folgende Canones direkt ins Gesicht:
- Nur Männer können der Hierarchie der Kirche angehören (vgl. z. B. 230 und 1024).
- Die nicht der Hierarchie zugeordneten Menschen sind Schafe, die "geweidet" werden müssen; sie müssen sich von der Hierarchie absolut führen, überwachen, seelsorgerisch betreuen, behirten und von der Kirche erziehen lassen (794, 1008).
- Die Kinder werden ohne wirkliche eigene Entscheidung zur Erstkommunion und damit auch zur Beichte veranlaßt und gefirmt, was das Versprechen in sich schließt, für die Kirche und den katholischen Glauben zu werben (914). Faktisch läuft das auf einen indirekten Zwang hinaus, sich auf ewig auf den katholischen Glauben festzulegen.
- Ferner (besonders wichtig) : Den Klerikern ist das Eingehen einer Ehe (ein Menschenrecht!) nach wie vor verboten (277); ja, wer auch nur versucht, eine Ehe einzugehen, wird als weiheunfähig erklärt (194).
- Einem protestantischen Pfarrer, der eine Mischtrauung vornimmt, wird dem Codex implicite zugemutet, die Höherbewertung der katholischen Religion anzuerkennen (1125), wobei zu bemerken ist, daß Mischehen nach wie vor grundsätzlich verboten sind (1124), es sei denn, der katholische Teil verpflichtet sich aufrichtig und in Kenntnis des anderen Teils, alles zu tun, für eine Taufe und Erziehung der Kinder zu sorgen (1125).
- Der Codex sieht nach wie vor ewige und grundsätzlich unauflösliche Gelübde der Ordensleute vor (691), was unserem Persönlichkeitsrecht grundsätzlich widerspricht. Der Verpflichtete kann die Hierarchie nur "aus sehr schwerwiegenden Gründen" um einen Dispens, das heißt um Gnade bitten.
- Die Ordensleute verzichten mit der Profeß verbindlich auf die Verwaltung ihres Vermögens (668).
- Der Ortsordinarius ist, ohne Rücksicht auf den Willen des Verfügenden, Willensvollstrecker frommer Verfügungen (1301).
Es sind dies alles Bestimmungen, die der Würde der menschlichen Person auf das krasseste widersprechen, eben der Menschenwürde, die der Papst bei jeder Gelegenheit so sehr betont.
Was von den Proklamationen der Kirche über die Freiheitsrechte zu halten ist, ergibt sich besonders eindrücklich aus einem Vergleich der Canones 797 und 798: Im ersten wird das Recht der Eltern auf freie Wahl der Schulen betont, doch gleich im folgenden werden die Eltern verpflichtet, ihre Kinder nur in katholischen Schulen erziehen zu lassen!
Die römisch-katholische Kirche ist in jeder Hinsicht und in unverändertem Maß eine Hierokratie, eine hierarchische Kirche geblieben. Auf die in diesem Codex neu verankerte, hierarchische Verfassung der Kirche wird auch im Promulgationserlaß des Papstes ausdrücklich hingewiesen (S. XIII). Die Macht dieser Kirche wird ausschließlich durch Hierarchen ausgeübt. Andere Mächte leiten ihre Befugnisse ganz von der Hierarchie der Kirche ab; sie ist – wie erwähnt – nach ihrem Selbstverständnis zuständig, auch darüber zu bestimmen, wer die weltliche Macht ausüben, das "zweite Schwert" tragen solle. Dabei wird diese Macht, daß heißt diese Gewalt, bis zum Exzeß betont. In den fünf Zeilen, in denen die Macht des Papstes umschrieben wird (333), finden wir das Wort Gewalt gleich dreimal und in den sieben Zeilen, in denen die Stellung des Bischofs dargestellt wird (391), sogar viermal. Überhaupt ist nicht nur im Codex, sondern auch in den Konstitutionen über die Kirche und über die Bischöfe dauernd von dieser Gewalt der Hierarchen die Rede.
Es wird gleichzeitig immer wieder betont, daß die Gläubigen den Hierarchen in allem Gehorsam schulden. Unter Klerikern wird auch vorgeschrieben, ihrem Orden mit ungeteiltem Herzen anzuhängen (z.B. 273 ff. in Verbindung mit 277 und 715).
Erstaunlich offen wird das Machtdenken der Kirche in denjenigen Bestimmungen offenbart, in denen den Bischöfen und Pfarrern vorgeschrieben wird, in welcher Weise sie vom Bistum beziehungsweise von der Pfarrei – wie es wörtlich heißt – Besitz zu ergreifen hätten (380, 382, 527, 534). Im übrigen wird im Codex nichts vergessen, was der Macht der Hierarchen dienen, sie konsolidieren und ausweiten könnte. Keine Möglichkeit, wo die Macht der Hierarchen hindringen und Einfluß nehmen könnte, wurde außer acht gelassen. Besonders eingehend wird die hierarchische Kontrolle über Schulen, Klöster und Vereine geregelt (241 ff., 298 ff., 317 ff., 321 ff., 715 und viele andere).
Absage an Reformen
Darüber hinaus stellen wir noch eine ganze Menge weiterer Bestimmungen fest, die eindrücklich belegen, daß die katholische Kirche wirklich das unbewegliche Monster geblieben ist, das keine Reformen duldet. So hält sie am Zölibat (194 und 277) wie auch an der Bestimmung fest, daß die Bibel nur mit kirchlichen Erläuterungen herausgegeben werden darf (825). So lehrt die Kirche auch weiterhin, daß die Priester mit ihrer Konsekrationsformel Brot und Wein in das Fleisch und Blut Christi verwandeln, dies weltweit täglich über hunderttausendmal (897, 899), und die Gläubigen werden dazu vergattert, dies fest zu glauben (898). Etwa an die Möglichkeit, das Meßopfer anderen Menschen und sogar Verstorbenen zukommen zu lassen, oder wie der Codex naiv sagt, zu "applizieren" (901); oder nehmen wir den Reliquienkult (neu ist bloß das Verbot, mit Reliquien Handel zu treiben, 1190) wie auch die Ablässe, die in der sogenannten Heilsordnung der Kirche nach wie vor eine bedeutende Rolle spielen (992 ff.)
Geblieben ist die Heiligen- und die Bilderverehrung (1187,1188), die Verbindlichkeit von heiligen Festen, wie die des heiligen Josef; geblieben ist vor allem auch die Ohrenbeichte mit der ganz unwahrscheinlichen Anmaßung, mit Verbindlichkeit für Gott beliebige Sünden zu vergeben (959). Geblieben ist im besonderen auch die faktisch göttliche Verehrung der "Mutter Gottes", die, wie weiland Isis im spätrömischen Reich, im Begriff steht, alle anderen Gottheiten zu überflügeln (1186). Geblieben oder besser gesagt festgeschrieben ist auch das Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes (749), ebenso die Unauflöslichkeit der Ehe (1056).
Bleibt als Fazit die Feststellung des ehemaligen katholischen, 1981 aus der Kirche ausgetretenen Theologen, Professor Horst Herrmann: "Kirche bleibt Kirche. Das ist mir inzwischen klar geworden" (Zitat aus dem Spiegel Nr.41 vom 5. Oktober 1981).