Aus: MIZ 4/80
Mancher, der in MIZ 3/80 den Aufruf zur Zweiten Atheistischen Weltkonferenz in der indischen Stadt Vijayawada gelesen hat,
fragte sich vielleicht, was für eine Bedeutung Atheismus in Indien für uns hier in Europa haben kann. Im Bewußtsein auch der
meisten Atheisten im Westen dürfte unterschwellig eher die Vorstellung herrschen, daß die bewußte Ablehnung und Überwindung von
Gottesglauben in engem Zusammenhang mit der Entwicklung abendländisch-rationalen Denkens steht, wie es sich im Zuge der
europäischen gesellschaftlichen Entwicklung herausgebildet hat. Zu einer solchen eurozentrischen Einstellung besteht jedoch
durchaus kein Grund. Gerade die Geschichte des indischen Denkens kann lehren, daß Einsichten, auf die wir uns manches zugute
halten, von Menschen anderer Völker schon gewonnen wurden, als unsere Vorfahren noch recht denkfaul auf ihren Bärenfällen
lagen. Damit soll die Bedeutung der europäischen kulturellen Traditionen für die Gegenwart nicht in Abrede gestellt werden.
Aber es wird bei gerechter Betrachtung sicher nötig sein, ihr Gewicht zu relativieren, indem man zunächst einmal ganz sachlich
die Leistungen anderer Kulturen zur Kenntnis nimmt (wobei wir immer von der grundsätzlichen Beschränktheit unseres Wissens
ausgehen müssen, da wir nur einige Teile schriftlicher Traditionen kennen, während die mündliche Überlieferung für uns
überhaupt nicht direkt greifbar ist). Daß es mit einer solchen schlichten Kenntnis fremder Kulturen - von einem Verständnis
ganz zu schweigen - noch immer nicht alles gut bestellt ist, läßt sich leider kaum bezweifeln. Unkenntnis aber ist eine
wesentliche Voraussetzung für Abwertung; gerade Atheisten, die durch Überwindung religiöser Beschränktheit günstige
Voraussetzungen für die Praktizierung eines internationalen Humanismus mitbringen, sollten zu jeder Art von Kulturimperialismus
auf deutliche Distanz gehen. Soziale Formen, die der christlichen Mission ähneln, in der der eine schon über die fertige
Wahrheit verfügt, während der andere sie bloß anzunehmen braucht, müssen in jedem Fall überwunden werden, wenn man nicht die
Politik, die Europa gegenüber den Ländern der Dritten Welt bisher betrieben hat, mit anderen Mitteln fortzusetzen gedenkt.