Ethikunterricht in Baden-Württemberg verfassungswidrig!

Gerhard Czermak

Aus: MIZ 3/98

So wie der obige Titel oder ähnlich hätten die Schlagzeilen lauten müssen, nicht aber - wie tatsächlich geschehen - umgekehrt. Das liegt zum einen an der Oberflächlichkeit von Journalisten, zum anderen am Bundesverwaltungsgericht. Dieses hat nämlich ein erstaunliches "Kunststück" fertiggebracht. Es hat einem Schüler unmittelbar vor Abschluß seines Abiturs nach über vierjährigem Rechtsstreit immerhin bescheinigt, der von ihm von Anfang an als verfassungswidrig bekämpfte Ethikunterricht (EU) mit seiner zusätzlich eindeutigen qualitativen Benachteiligung gegenüber dem Religionsunterricht (RU) verstoße in Baden-Württemberg tatsächlich gegen das Gleichheitsprinzip (Art 3 I Grundgesetz) und sei somit rechtswidrig.

Trotzdem hat es die Revision zurückgewiesen mit der Folge, daß der Kläger die Kosten aller drei Instanzen zu tragen hat. Angeblich habe er nicht den richtigen prozessualen Weg eingeschlagen. Dabei hat er doch stets eindeutig erkennbar erreichen wollen, den Ethikunterricht nicht besuchen zu müssen1. Und einen derzeit generell rechtswidrigen Unterricht zu besuchen, kann doch kein Rechtszwang bestehen. Der Praktiker des Verwaltungsprozeßrechts kann sich über die Vorgehensweise des Gerichts nur wundern. Über die der Presseberichterstatter allerdings auch.

Verstoß gegen die Begründungspflicht

Diese formalen Dinge sollen hier nicht weiter interessieren. Wichtiger erscheint folgendes: Das Bundesverwaltungsgericht hat die zentrale verfassungsrechtliche Argumentation, die Koppelung des Ethikunterrichtes an die Nicht-Teilnahme am Religionsunterricht - faktisch einem Wahlfach - verstoße gegen die Religionsfreiheit2, leider nicht gewürdigt. Dabei hatten schon ein Teil der Fachliteratur und 1997 das Verwaltungsgericht Hannover in einer aufsehenerregenden Entscheidung3 diese kritische Argumentation übernommen, und das Verwaltungsgericht Hannover hat seinen Fall dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung nach Art. 100 1 Grundgesetz vorgelegt. Das bewußt zu ignorieren, bedeutet einen Verstoß des Bundesverwaltungsgerichts gegen die Regeln ordnungsgemäßer Rechtsanwendung. Dennoch enthält das jetzige Urteil eine Reihe interessanter Feststellungen, die zwar als einerseits selbstverständlich, andererseits aber doch als gewisser Fortschritt betrachtet werden können.

Positive Aspekte

Nach Art. 100 a baden-württembergisches Schulgesetz wird für Schüler, die nicht am Religionsunterricht teilnehmen, das Fach Ethik als ordentliches Fach eingerichtet. Diese Vorschrift muß nach dem Bundesverwaltungsgericht Grundgesetz-konform dahin ausgelegt werden, daß Ethikunterricht "als ein dem Fach Religion inhaltlich und organisatorisch gleichwertiges Fach" ausgestattet wird (Hervorh. Cz). Inhaltlich, so das Gericht zutreffend, ist der Ethikunterricht nicht zu beanstanden, wenn und da er verfassungslegitime Ziele verfolgt, wobei auch der Grundsatz der religiös-weltanschaulichen Neutralität zu beachten ist. Ethikunterricht ist dann nicht anders zu sehen wie etwa die Fächer Deutsch und Geschichte und andere Fächer mit ideologisch bedeutsamen Themen. Das war schon bisher allgemeine Meinung (bemerkenswert demgenenüber die andere Beurteilung des ausdrücklich neutral konzipierten LER-Unterrichts in Brandenburg durch dessen kirchliche Gegner). Das Gericht betont den auf Pluralismus gründenden Staatsgedanken. Die Argumentation, das baden-württembergische Schulgesetz verweise unzulässig aufeine Erziehung in Verantwortung vor Gott und "im Geist der christlichen Nächstenliebe"4, läßt das Bundesverwaltungsgericht nicht gelten. Denn gleichberechtigt stünden daneben andere ethische Erziehungsziele und der positive Bezug auf Elemente christlicher Religion sei einschränkend zu verstehen: es gehe nur um den "Kultur- und Bildungswert der christlichen Religionen", nicht um Glaubensfragen. Daraus folgt, sollte man meinen: religiöse Bezüge in Landesverfassungen sind generell Grundgesetz-konform wegzuinterpretieren. Das hat man so noch nicht gelesen.

Das Bundesverwaltungsgericht hält es für ohne weiteres zulässig, daß Ethikunterricht ausnahmslos für alle Schüler vorgeschrieben wird. Religion wäre dann für alle, die auch den Religionsunterricht besuchen wollen, ein zusätzliches Wahlfachangebot. [Genau das war übrigens noch Anfang 1996 in Sachen LER unter Berücksichtigung des Ergebnisses der Anhörung juristischer Sachverständiger im Bildungsausschuß des Landes Brandenburg die Position der SPD-Mehrheitsfraktion gewesen. Diese knickte dann aber u.a. wegen der starken kirchlichen Kritik ein und beschloß gegen ihren Willen die dann Gesetz gewordene besonders problematische Befreiungsregelung, die an einen privat-kirchlichen Unterricht anknüpft. Die juristisch nahezu groteske Befreiungsregelung wird bei den anstehenden LER-Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts wohl eine wichtige Rolle spielen.]

Das Bundesverwaltungsgericht hält stattdessen auch einen Ausgleich der den Religionsunterricht-Schülern entstehenden zusätzlichen Belastung durch Ethikunterricht für die anderen für zulässig. Dieser Ausgleich darf aber "nicht zu einem faktischen Eingriff in die Freiwilligkeit der Teilnahme am Religionsunterricht führen". Bei der zulässigen, aber nicht erforderlichen Einführung von Ethikunterricht darf der Gesetzgeber "weder positiv noch negativ auf die Wahl der Teilnahme am Religionsunterricht ( ... ) Einfluß nehmen" (Originalabdruck S. 18). Damit nimmt das Gericht einen wesentlichen Gesichtspunkt der Kritik auf, ohne daraus aber die Konsequenz der generellen Unzulässigkeit des Ethikunterricht für nur einen Teil der Schüler zu ziehen. Immerhin ergeben sich aus dem Beeinflussungsverbot gewisse schulpraktische Folgen (z.B. bezüglich der Informierung der Eltern).

Eine wichtige Konsequenz zieht das Gericht aber doch. Ethikunterricht sei kein Ersatz für Religionsunterricht, sondern eine "Alternative": und zwar - das ist neu und erfreulich - nur auf der "Basis der Gleichwertigkeit auch der schulpraktischeu Ausgestaltung". Daher sei die einschlägige baden-württembergische Rechtsverordnung, die den Fächern Ethikunterricht und Religionsunterricht in Gymnasien "ein erheblich unterschiedliches Gewicht" gibt (unterschiedliche Anrechnung im Kurssystem der Oberstufe; kein Leistungskurs in Ethik; kein Ethik-Grundkurs als Abiturfach), sowie die entsprechende Schulpraxis rechtswidrig. Das Gericht spricht vom "Umsetzungsdefizit" der Verordnung bezüglich des verfassungskonform ausgelegten 100 a baden-württembergisches Schulgesetz, von einer "curricularen Minderausstattung". Ein "verfassungsmäßiger Zustand" ist laut Bundesverwaltungsgericht "alsbald" (so S. 27) herzustellen. Entweder sei der Ethikunterricht lehrplanmäßig dem Religionsunterricht anzupassen oder umgekehrt. Nur bei einer solchen Gleichwertigkeit hält das Gericht die Freiwilligkeit der Entscheidung über die Teilnahme am Religionsunterricht für verfassungsrechtlich ausreichend gesichert. Nur dann liege keine Diskriminierung vor.

Die geforderte Gleichwertigkeit kann nicht nur formal verstanden werden, sondern müßte auch inhaltlich gewährleistet sein mit der Voraussetzung einer - bisher fehlenden - qualitativ gleichwertigen Ausbildung der Ethiklehrer5. Das Bundesverwaltungsgericht hat das immerhin als Problem gesehen (S. 26), die Konsequenz aber leider nicht ausdrücklich gezogen. Es hat aber von einem "unverzichtbaren Mindeststandard" eines gymnasialen Ethikunterrichts gesprochen. Das kann aber doch nur eine speziell wissenschaftliche Ausbildung für den Ethikunterricht bedeuten, die einer entsprechenden (ggf. zu schaffenden) Universitätsausbildung gleichwertig ist. Das müßte "alsbald" (?) geschehen. Damit würde das wichtige Fach Ethik endlich den Rang erhalten, der ihm zukommt. Insoweit ist die Entscheidung nicht nur für Baden-Württemberg von Bedeutung, sondern für sämtliche Länder, die in Abhängigkeit von Religionsunterricht einen Ethik-, Philosophie- oder ähnlichen Unterricht kennen.

Gesamtwürdigung und Perspektiven

Das Urteil enthält erhebliche juristische Auslassungen (Problematik der Art. 7 II, 3 III Grundgesetz), die durch eine vielfach unnötige Weitschweifigkeit keineswegs kaschiert werden. Die zahlreichen Unstimmigkeiten und Widersprüche (die hier nicht im einzelnen aufgezeigt werden können) wie auch das fast zynisch wirkende prozessuale Ergebnis (der Kläger bekommt zwar der Sache nach recht, verliert aber den Prozeß) vermag sich der Verfasser dieser Besprechung nur so zu erklären, daß der Senat gezwungen war, konträre Meinungen sozusagen gewaltsam zu vereinen (ganz anders der hochkarätige Beschluß des Verwaltungsgerichtes Hannover, s.o.). Da der Ethikunterricht in Baden-Württemberg, den der Kläger besucht hat, unabhängig von der Qualität des konkreten Unterrichts strukturell verfassungswidrig und nicht durch das Schulgesetz gedeckt war, hätte der Kläger berechtigt sein müssen, dem Unterricht fernzubleiben. Das Urteil könnte aber trotz seiner Mängel große und positive Auswirkungen (Professionalisierung, Gleichberechtigung) weit über Baden-Württemberg hinaus haben; es sei denn, es setzen sich speziell süddeutsch-rechtsbrecherische Tendenzen fort, im Bedarfsfall höchstrichterliche Entscheidungen zu ignorieren: Rechtsstaat "light"(?). Ein Juraprofessor hat für den Kläger bereits Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht erhoben. Seit zwei Jahren liegt dort bereits in Sachen Ethikunterricht eine Verfassungsbeschwerde aus Bayern und seit einem Jahr die Richtervorlage aus Hannover/Niedersachsen mit gleichartigen Rechtsfragen. Man darf gespannt sein.

Anmerkungen

1 vgl. MIZ 2/95, S. 32 ff.; MIZ 3/97, S. 28 f

2 unzulässiger Ersatzfachcharakter, s. hierzu MIZ 1/92, S. 3 ff. und MIZ 2/95, S. 32 ff

3 vgl. MIZ 4/97, S. 38 f

4 vgl. auch Art. 12 baden-württembergische Verfassung

5 zu einem diesbezüglichen Mißstand MIZ 1/98, S. 12 f