„Leitkultur Humanismus und Aufklärung“ oder „weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates“?

Workshop 3 der Tagung "Leitkultur Humanismus und Aufklärung" 2005 in Köln

Bericht von Irene Nickel

Referenten: Dr. Michael Schmidt-Salomon, Dr. Horst Groschopp, Werner Schultz; Moderator: Dr. Wolfgang Proske

Nach einleitenden Worten von Dr. Wolfgang Proske begann Dr. Michael Schmidt-Salomon seinen Vortrag:

Plädoyer für eine humanistisch-aufklärerische Leitkultur

Geprägt wurde der Begriff „Leit­kultur“ von dem Göttinger Politik­wissenschaftler Bassam Tibi, der darunter einen Konsens über Werte wie Vernunft, Demokratie, Pluralismus und Toleranz verstand. Eine breitere öffentliche Dis­kussion um den Begriff entstand, als Friedrich Merz (CDU) den Begriff einer „deutschen Leitkultur“ in die Debatte warf und forderte, dass Zuwanderer in Deutschland sich dieser „deutschen Leit­kultur“ anpassen müssten. Schmidt-Salomon warb für eine Form der Leitkultur, die „Leitkultur Huma­nismus und Aufklärung“, die der „europäischen Leitkultur“ Tibis ver­wandt, jedoch „inhaltlich schärfer akzentuiert“ sei.

1. Multikulti-Illusionen und „deutsche Leitkultur“

Die Ausgangslage der Leitkultur-Debatte in Deutschland beschrieb Schmidt-Salomon als eine „seltsame Mixtur“: Einerseits konservative, teil­weise deutschtümelnde Verfechter der „Werte des christlichen Abendlandes“, andererseits scheinbar progressive Ent­scheidungsträger, die von einer „multi­kulturellen Gesellschaft“ träumten und sich in der Illusion wiegten, dass Zu­wanderer sich automatisch zu Demo­kraten entwickeln würden, wenn man ihnen rechtsstaatlich garantierte Grund­rechte einräumte. Eine Illusion, die den Blick dafür trübte, dass sich auch hierzulande religiöse Parallelgesell­schaften herausgebildet haben, die funda­mentale rechtstaatliche Prinzipien negier­ten, z. B. evangelikale russlanddeutsche Aussiedler oder Islamisten der türkischen Migrantenszene.

Anpassungsdruck und Isolierung auf der einen Seite, auf der anderen Seite eine multikulturelle Beschwichtigungspolitik, die jeden Verdacht der Ausländer­feindlichkeit fürchtete und jede Islam­kritik als „Kulturimperialismus“ miss­deutete. Dieses „ausländerpolitische Kombipack“ hat nach Schmidt-Salomon dafür gesorgt, dass die Saat des Islamis­mus auf deutschem Boden hervorragend gedeihen konnte.

Gesetze, z. B. gegen Zwangsheirat, seien zwar ein notwendiger, aber noch kein hinreichender Schritt. Gerade im Bildungsbereich müssten neue Wege gegangen werden. So bräuchten wir einen für alle SchülerInnen verbindlichen Ethik- und Religionskundeunterricht.

2. Die notwendige Begrenzung der welt­anschaulichen Neutralität des Staates

In der Debatte um den Berliner Werteunterricht sei von Kritikern immer wieder ins Spiel gebracht worden, der zu „religiös-weltanschaulicher Neutralität“ verpflichtete Staat habe kein Recht, selber aktiv Werte zu vermitteln.

Jedoch, so Schmidt-Salomon, sei die im deutschen Grundgesetz verankerte Forderung nach einer weltanschaulichen Neutralität des Staates keineswegs als Verpflichtung zu staatlicher Wert­indifferenz zu deuten. Das Grundgesetz sei nicht wertindifferent, es enthalte Werte, wie die Grundrechte und das Sozialstaatsprinzip. Diese Werte dürfe der Staat in seinen Erziehungs­einrichtungen sehr wohl aktiv vermitteln, ja er müsse es, um ein friedliches und gerechtes Zusammenleben der Bürger zu sichern und seine eigene Verfasstheit (und damit die Grundrechte der Bürger) gegen freiheitsfeindliche Angriffe zu schützen.

Aufgabe von Staat und Ländern sei außerdem die Förderung einer seriösen Bildung, die am Kriterium der Wahrheit ausgerichtet sein müsse, konkret: am Stand der Wissenschaft. Bestimmten Forderungen dürfe nicht nachgegeben werden, etwa nach Vermittlung kreatio­nistischer Schöpfungstheorien im Bio­logieunterricht oder nach Darstellung homosexueller Handlungen als „unnatür­lich“.

3. Religionspolitische Praxis

Die Freiheit der Religionsausübung muss selbstverständlich weiterhin ge­währleistet sein – jedoch die heute übliche staatliche Förderung der Reli­gionen sollte deutlich zurückgenommen werden. Das beträfe insbesondere: die Theologischen Fakultäten der Univer­sitäten, den Religionsunterricht an den Schulen (stattdessen philosophisch-reli­gionswissenschaftlicher Werte-Unterricht für alle Schüler), die Besetzung von Rundfunk-, Ethikräten etc. und die Aufhebung des besonderen Tendenz­schutzes religiöser Betriebe.

4. Unterschiedliche Konzeptionen zum Verhältnis von Staat und Weltanschauung

Modell Förderung für Großkirchen Förderung für Humanisten Verfechter
4.1 real existierend in Deutschland viel wenig Kirchen, Establishment
4.2 konsequente Trennung von Staat und Weltanschauung keine oder wenig keine oder wenig z. B. IBKA
4.3 Humanismus als „Dritte Konfession“ viel viel z. B. HVD
4.4 „Leitkultur Humanismus und Aufklärung“ keine oder wenig viel Schmidt-Salomon

Der deutsche Staat privilegiert massiv die christlichen Kirchen, ignoriert aber weitgehend die Interessen der Konfes­sionslosen. Das Modell 4.1 wird deshalb in der säkularen Szene heftig kritisiert.

Dieser Ungleichbehandlung kann auf zweierlei Weise abgeholfen werden: durch die Modelle 4.2 und 4.3.

Zu Modell 4.4 erklärte Schmidt-Salomon, dort werde der aufgeklärte Humanismus nicht als eine Konfession neben anderen begriffen, sondern als die eigentliche Essenz des modernen Recht­staates und seiner Verfassung. Seine eigenen verfassungsmäßigen Grundlagen dürfe der Staat entschieden fördern.

Humanismus als dritte Konfession

Dr. Horst Groschopp vom Humanisti­schen Verband Deutschlands (HVD) erklärte, im Humanismus sehe er ein weltanschauliches Bekenntnis; entspre­chend sei der Lebenskunde-Unterricht, der in Berlin von Lehrern des HVD erteilt werde, ein Weltanschauungsunterricht.

Das Wort „Humanismus“ sei in unterschiedlichen Bedeutungen in Ge­brauch:

1. Viele dächten bei „Humanismus“ an ein „Humanistisches Gymnasium“, wo Latein und Griechisch gelehrt werden sowie allerlei damit zusammenhängende Bildungsinhalte.

2. Bei einem weiteren Begriff von „Humanismus“ stehen im Mittelpunkt jene demokratisch-aufklärerischen Grund­sätze, die in den Verfassungen Europas ihren Niederschlag finden, wie Men­schenrechte, Selbstbestimmung und Tole­ranz. Diese Grundsätze basieren auf der Erkenntnis, dass es säkularer Regeln bedarf, einer „Hausordnung“ für Europa, um religiös-weltanschauliche Konflikte friedlich auszutragen.

3. Schließlich – nach dem Selbst­verständnis des HVD – sei Humanismus eine Weltanschauung, die sich keines­wegs in dieser verfassungsrechtlichen Definition erschöpfe. Dazu gehöre, dass Humanisten sich nicht an göttlichen Offenbarungen orientieren, sondern – im Bewusstsein ihrer sozialen Verantwor­tung – sich selbst ihre Lebensmaximen geben, ihre Ethik und ihre Verfassungen.

Weltanschauung und Ethik beruhten nicht auf erfahrungswissenschaftlichen Erkenntnissen, wenngleich es Versuche gegeben habe, ethische Grundsätze natur­wissenschaftlich oder sozialwissen­schaftlich zu begründen.

Die Schaffung sozialer Einrichtungen sei die logische Konsequenz der huma­nistischen Weltanschauung: Erst in der Praxis, in der praktischen Hilfe für einzelne Menschen werde erfahrbar, was Humanismus ausmacht.

Der HVD habe u. a. 20 Kindergärten, da müsse immer wieder entschieden werden, was denn im Einzelnen „huma­nistisch“ ist. Eine Aufgabe für den HVD wäre auch die Betreuung von Soldaten, analog der Militärseelsorge. Das bedeute nicht zwangsläufig eine Billigung militä­rischer Aktivitäten; vielmehr gehe es um Hilfe für die Menschen in diesem Bereich, Menschen mit ihren Nöten und Sorgen.

Diskussion (erster Teil)

Nach diesen beiden Vorträgen folgte eine Diskussion über die Aktivitäten des HVD. Insbesondere für den Bereich der Militär-„Seelsorge“ wurde die Verbin­dung von Staat und Religion/Welt­anschauung problematisch genannt. Werner Schultz vom HVD betonte, dabei gehe es nicht um psychologische Bera­tung und nicht um Sozialarbeit, sondern um „geistliche Beratung“, z. B. um Sinnfragen.

Diskutiert wurde außerdem über das Verhältnis von Ethik und Wissenschaft.

Darf der Staat aktiv Werte vermitteln? Debatte um Berliner Werte-Unterricht

Nach einer Pause hielt Werner Schultz, HVD, einen dritten Vortrag.

Er berichtete, in Berlin gebe es keinen staatlichen Religionsunterricht. Statt­dessen werde Religionsunterricht von den Kirchen angeboten und Lebenskunde-Unterricht vom HVD; die Lehrkräfte seien nicht beim Land Berlin angestellt, sondern bei den Kirchen bzw. beim HVD. Der HVD beschäftige ca. 400 Lehrkräfte für ca. 40100 Schülerinnen und Schüler.

Ein neues Werte-Unterrichtsfach für alle Schülerinnen und Schüler ab der 7. Klasse sei in Berlin ab 2006 geplant; es sollten Grundwerte unserer Gesellschaft behandelt werden sowie verschiedene Kulturen, Religionen und Weltanschau­ungen. Daneben solle der Religions- und Lebenskundeunterricht wie bisher als wahlfreier Unterricht angeboten werden.

Darum gebe es jetzt in Berlin heftigen Streit. Die Kirchen forderten für Berlin einen staatlichen Religionsunterricht als Wahlpflichtfach mit Ethik als Ersatzfach. Die CDU und auch die dortige FDP hätten sich der Forderung angeschlossen.

Auf der anderen Seite stünden in Berlin die PDS, die Grünen und auch eine klare Mehrheit der Berliner SPD.

Darin unterscheide sich die Berliner SPD von der SPD in Westdeutschland. Dort seien Politiker aller Parteien bestrebt, sich mit den Kirchen gut zu stellen.

Die Kontroverse sei bis in den Bundestag getragen worden, wo – auf Initiative der CDU/CSU-Fraktion – in einer Aktuellen Stunde darüber debattiert worden sei.

Gegner der neuen Regelung bedienten sich teilweise einer üblen Polemik. Einige, z. B. der „Notbund für den Evangelischen Religionsunterricht“, zögen Parallelen zur Situation unter dem Nationalsozialismus oder sprächen davon, es hätten sich DDR-Seilschaften durchgesetzt. Viele unwahre Behaup­tungen seien in der Öffentlichkeit ver­breitet worden; nicht zuletzt vom Rats­vorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof Wolfgang Huber.

Religionsunterricht erteile in Berlin neuerdings auch die „Islamische Födera­tion Berlin“, der Kontakte zu Milli Görus nachgesagt werden. Der Schulsenat ver­suche, die Arbeit der Föderation zu erschweren. Das könne der HVD nicht gutheißen. Er sympathisiere nicht mit der Föderation, er sei jedoch für Gleich­behandlung, nachdem sich die Föderation das Recht zur Erteilung von Religions­unterricht vor Gericht erstritten habe. Falls die Föderation nicht auf dem Boden der Verfassung stehe, liege es in der Verantwortung des Senats, das nach­zuweisen.

Die Besorgnis, dass in islamischem Religionsunterricht problematische Inhal­te vermittelt werden könnten, werde von einigen zum Anlass genommen, sich für eine Übernahme des Religionsunterrichts durch das Land Berlin auszusprechen. Sie meinten, dann könnte der Religions­unterricht besser kontrolliert werden. Das sei jedoch nicht der Fall, da die Inhalte definitiv von der jeweiligen Religions­gemeinschaft bestimmt würden.

Ein staatlicher Religionsunterricht als Wahlpflichtfach sei für einige Lehrer sehr verlockend gewesen: Sie hätten Beamte werden können, mehr Gehalt bekommen können – und sie hätten es leichter gehabt, Schülerinnen und Schüler zur Teilnahme am Unterricht und zur Dis­ziplin zu motivieren. Der HVD jedoch habe sich – trotz dieser Nachteile für seine eigenen Leute – dagegen ausge­sprochen. Er habe an der Trennung von Staat und Kirche festgehalten, und ebenso an der Freiwilligkeit des Lebenskunde-Unterrichts. Das habe dem HVD Sympa­thien eingebracht.

Zum Schluss wies Schultz auf ein Buch von Jürgen Habermas hin, „Zwischen Naturalismus und Religion“. Habermas habe gemeint, in den Reli­gionen gebe es ein positives Potential, das es ins Säkulare zu übertragen gelte. Nach Habermas hätten heute gerade religiöse Menschen eine besondere Schwierigkeit: Um ernst genommen zu werden, müssten sie ihre Anliegen in eine säkulare Sprache übersetzen.

Diskussion (zweiter Teil)

Schmidt-Salomon äußerte sich kri­tisch zur Strategie von Habermas, selbst aus dem Schlechtesten noch etwas Positives herausfiltern zu wollen. Wenn etwas schlecht sei, müsse man es aussprechen: beispielsweise, dass weder Koran noch Bibel auf dem Boden der Verfassung stünden. Im staatlichen Unterricht müsse es auch um ethische Prinzipien gehen, z. B. um Selbstbe­stimmung, die im Gegensatz zu Koran und Bibel stehe. Positiv anzumerken sei Habermas’ Gespür für wichtige Themen.

Groschopp wandte sich gegen einen „humanistischen Fundamentalismus“. Wenn wir den Humanismus zum Staats­prinzip machen wollten, würde es heißen, wir wären „eine besonders eifrige Sekte“.

Prof. Franz Buggle meinte, dass in Süddeutschland nicht die Christen, son­dern die Atheisten in der schwierigen Position einer häufig missverstandenen Minderheit seien. Er wies darauf hin, welche psychischen Schäden die unbarm­herzige Lehre von der Hölle angerichtet habe; und diese Lehre werde noch immer von Ratzinger vertreten. Wer Nächsten­liebe gepredigt habe, habe nur zu oft schlimme Taten verübt. Nächstenliebe im Christentum sei Nächstenliebe aus heteronomer Motivation, z. B. aus Angst, also nicht aus autonomer Motivation.

Schlussworte

Dr. Michael Schmidt-Salomon er­klärte, einige Schwierigkeiten in der Diskussion beruhten vielleicht auf einem Missverständnis: Man müsse unter­scheiden zwischen Humanismus als Leit­kultur – die hätten wir bereits, z. B. im Grundgesetz – und Humanismus als kompletter Weltanschauung.

Dr. Horst Groschopp betonte, dass Gegnerschaft gegen Religion und Kirchen allein heute kein erfolgreiches Konzept mehr sein könne.

Werner Schultz sprach sich für eine humanistische Weltanschauungsgemein­schaft aus. Wir hätten bessere Argumente für unsere Ethik. Nahziel sei nicht die Überwindung der Religion, sondern Pluralismus und Gleichbehandlung.