Friedrich Schillers evolutionärer Weg zur Republik

Dr. Wilfried Noetzel

Deutsche Revolutionsnostalgiker verweisen gerne auf die sporadischen Republikversuche von Frankreichs Gnaden gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Die linksrheinischen Fortschrittsenklaven müssen ihnen als freilich unzureichende Beweise für die Demokratietauglichkeit der Deutschen herhalten, denen die Geschichte mehr als ein weiteres Jahrhundert länger den Feudalismus zumutete. Aber abgesehen davon, dass damals nicht alle Verhaltensweisen der siegreichen Volksarmee des Nachbarlandes von der Bevölkerung als charmant empfunden worden sind, machten es die Massaker der Jakobinerdiktatur und der Umschlag der revolutionären Emphase in eine nationalistische, unter ihrem größenwahnsinnigen Volkskaiser dann in eine imperialistische, vielen republikanisch gesonnenen deutschen Bürgern und Intellektuellen nicht gerade leicht, auf einen fundamentalen Wandel der politischen Verhältnisse zu hoffen. Um gleich mit einem Schillerzitat aus einem Brief vom 13. Juli 1793, dem Jahr des Untergangs der Mainzer Republik, zu beginnen:

Ja ich bin soweit entfernt an den Anfang einer Regeneration im Politischen zu glauben, dass mir die Ereignisse der Zeit vielmehr alle Hoffnungen dazu auf Jahrhunderte benehmen.... Der Versuch des französischen Volks, sich in seine heiligen Menschenrechte einzusetzen, und eine politische Freiheit zu erringen, hat bloß das Unvermögen und die Unwürdigkeit desselben an den Tag gebracht, und nicht nur dieses unglückliche Volk, sondern mit ihm auch einen beträchtlichen Teil Europas, und ein ganzes Jahrhundert, in Barbarei und Knechtschaft zurückgeschleudert. (Bolten, S. 41)

So Friedrich Schiller an seinen Mäzen, den Titularherzog Friedrich Christian von Augustenburg. Der frustrierende Verlauf der einst so hoffnungsvoll begrüßten Volkserhebung und seine Erkenntnis, "dass derjenige noch nicht reif ist zur bürgerlichen Freiheit, dem noch so vieles zur menschlichen fehlt" (ebd.), veranlasste den schwäbischen Neuhumanisten, nach einem gewaltfreien Weg zur Republik zu suchen. In seinen antifeudalistischen Jugenddramen, die ihn so berühmt machten, dass ihm die französische Nationalversammlung 1792 sogar das Bürgerrecht verlieh, hatte er bereits Revolutionäre auf die Bühne gestellt, die verbrecherisch wüteten (Die Räuber), die gerade errungene Freiheit des Volkes usurpierten (Die Verschwörung des Fiesko zu Genua) oder politisch scheiterten (Don Carlos). 1789, zu Beginn der Französischen Revolution, war der frisch vermählte Hofrat Schiller Geschichtsprofessor an der Universität Jena geworden, was ihn veranlasste, ein halbes Dutzend Jahre nur noch wissenschaftlich und publizistisch zu arbeiten. Während dieser trotz lebensgefährlicher Erkrankung äußerst fruchtbaren Zeit intensiver historischer und philosophischer Studien und Publikationen, entwickelte er auch seine reformerische Alternative zum gewaltsamen Umsturz der auch von ihm vehement kritisierten politischen Verhältnisse.

Die Initialzündung dazu hatte ein süddeutscher Jakobiner gegeben, den selbst die Hinrichtung des Königs und die exzessiven Blutbäder des Jahres 1793 nicht an der Revolution der Franzosen hatte irre werden lassen. Er verfocht das Recht des Volkes auf Revolution, wie die französischen Jakobiner es in die Verfassung hatten schreiben lassen und auf Grund dessen Marat die Septembermassaker, Robespierre die Hinrichtung des Königs und Saint-Just noch Dantons Liquidition legitimierte. Die Rede ist von dem Nürnberger Arzt Johann Benjamin Erhard. Wie sein Freund Friedrich Schiller, der ebenfalls Medizin studiert hatte, entstammte er dem Kleinbürgertum und war durch intensives Selbststudium und Aufmerksamkeit erregende Veröffentlichungen in die Oberschicht der Gelehrten aufgestiegen. Wie Schiller, den er auf einer ausgedehnten Studienreise Anfang der 90er Jahre kennenlernte, war er mit namhaften Intellektuellen seiner Zeit befreundet oder bekannt und wie dieser Anhänger der Kantischen Philosophie. Aber weit radikaler als Schiller, war er in die revolutionäre Praxis verstrickt, die besonders im verarmenden Nürnberg eine explosive Situation vorfand. Erhard agitierte, schrieb Flugblätter und kontaktierte Agenten, die im Dienst der in den deutschen Ländern operierenden französischen Armeen standen, leistete Spitzeldienste, und pflegte Verbindungen zu ausländischen Jakobinern, die später exekutiert oder langjährig inhaftiert wurden, was er selbst indessen geschickt zu vermeiden wusste. Wie viele deutsche Intellektuelle, die an eine revolutionäre Erneuerung geglaubt hatten, resignierte er, wenn auch zeitverzögert, nach dem Sturz der Jakobinerdiktatur und im Zuge des napoleonischen Imperialismus endgültig. Nachdem Preußen 1796 das bankrotte Nürnberg annektiert hatte, folgte Erhard ein Jahr später einem Ruf des Ministers Hardenberg nach Berlin, wo er zuletzt eine große und einträgliche Arztpraxis unterhielt.

So viel bzw. so wenig im Zeitraffer über einen deutschen Jakobiner, der . und das ist der Grund für seine Erwähnung im Zusammenhang meines Referats - 1794 ein bald verbotenes und vergessenes Buch "Über das Recht des Volks zu einer Revolution' veröffentlichte, auf das hier leider nur am Rande eingegangen werden kann. Über dessen provokante Thesen diskutierte er offenbar auf einer Reise vom 7.5. bis 10.5. von Stuttgart nach Nürnberg mit Schiller, der ihm (in einem Brief vom 26.5.), Antijakobiner und bürgerlicher Liberaler, der er war, freundschaftlich nahelegte:

Vor allem folgen Sie meinem Rat, und lassen Sie vorderhand die arme, unwürdige und unreife Menschheit für sich selbst sorgen. Bleiben Sie in der heitern und stillen Region der Ideen, und überlassen Sie es der Zeit, sie ins praktische Leben einzuführen. Und wenn es Sie je kitzelt, außer sich zu wirken, so machen Sie den Anfang mit dem physischen, und kurieren die Körper von der Gicht und vom Fieber, deren Seelen inkurabel sind. (Haasis, S. 217)

Sicherlich ein Dokument politikpraktischer Abstinenz, wie sie für deutsche Intellektuelle der damaligen Zeit nicht außergewöhnlich gewesen ist und die Schiller für sich mit dem Scheitern der Französischen Revolution begründete. In dem oben erwähnten zweiten der sgn. Augustenburger Briefe schreibt er zu seiner Rechtfertigung:

Wäre das Faktum wahr, - wäre der außerordentliche Fall wirklich eingetreten, dass die politische Gesetzgebung der Vernunft übertragen, der Mensch als Selbstzweck respektiert und behandelt, das Gesetz auf den Thron erhoben, und wahre Freiheit zur Grundlage des Staatsgebäudes gemacht worden, so wollte ich auf ewig von den Musen Abschied nehmen, und dem herrlichsten aller Kunstwerke, der Monarchie der Vernunft, alle meine Tätigkeit widmen. Aber dieses Faktum ist es eben, was ich zu bezweifeln wage. (Bolten, S.40f)

Und so blieb denn dem politisch enttäuschten deutschen Dichter und Denker nur der Rückzug ins Reich der Ideen, deren gesellschaftskritische Aktualität und soziokulturelle Zukunftsträchtigkeit indessen, im Gegensatz zu Erhards Revolutionsapologie, bis heute wirksam geblieben ist. Erhard hatte vier Hauptgründe der Rechtfertigung für einen gewaltsamen Umsturz geltend gemacht: Ungerechtigkeiten zu beseitigen, Gerechtigkeit zu ermöglichen, Menschenrechtsverletzungen aufzuheben und diese uni- versalen Rechte wie die Menschenwürde zu verteidigen. Honorige Zielsetzungen fürwahr, die auch Schiller bejahte, indessen mit einem wesentlichen Unterschied: Er lehnte deren kurzfristige und gewaltsame Verwirklichung ab: "Das große Bedenken also ist, dass die physische Gesellschaft in der Zeit keinen Augenblick aufhören darf, indem die moralische in der Idee sich bildet, dass um der Würde des Menschen willen seine Existenz nicht in Gefahr geraten darf." (Schiller, S. 575) Ein solches Postulat lässt nur langfristige politische Veränderungsstrategien zu, die möglichst alle Kreise der Bevölkerung an nachhaltigen Reformen beteiligt. Diese Reformen sind für Schillers soziokulturellen Ansatz aber allenfalls kulturpolitischer, vor allem aber pädagogischer Natur. Immanuel Kant hatte im Geiste der Aufklärung eine Revolutionierung der Denkungsart gefordert, Schiller ergänzte diese Forderung durch ein Plädoyer für eine Revolutionierung der Sinnesart. Sie erst würde die motivationale Verankerung universaler Prinzipien der Humanität in der menschlichen Natur garantieren:

Wenn die Wahrheit im Streit mit den Kräften den Sieg erhalten soll, so muss sie selbst erst zur Kraft werden und zu ihrem Sachführer im Reich der Erscheinungen einen Trieb aufstellen; denn Triebe sind die einzigen bewegen- den Kräfte in der empfindenden Welt. Hat sie bis jetzt ihre siegende Kraft noch so wenig bewiesen, so liegt dies nicht an dem Verstande, der sie nicht zu entschleiern wusste, sondern an dem Herzen, das sich ihr verschloss, und an dem Triebe, der nicht für sie handelte. (Schiller, S. 591)

Wenn Schiller im Zeitalter der Vernunft das 'Empfindungsvermögen' kultivieren wollte, folgt er keineswegs einem frühromantischen, sondern eher einem psychologisch-pragmatischen Impuls: Die Erkenntnis des Guten und Richtigen hat nicht zwangsläufig gutes und richtiges Handeln zur Folge. Rationale Aufklärung bedarf, um engagiertes Handeln entstehen zu lassen, der affektiven Beteiligung der Menschen, damit die Erkenntnis des Wahren und Guten in emanzipatorische Praxis umschlagen kann. Zu diesem Zweck will der Ästhetische Erzieher alle Klassen und Stände intensiven kognitiven wie affektiven Bildungsprozessen aussetzen, um deren Friedfertigkeit und Verständigungsbereitschaft zu erhöhen. Weder Wissenschaftler, noch Beamte, noch Händler, noch Arbeiter, weder die herrschenden noch die unterprivilegierten Klassen sollen davon ausgenommen werden. Schiller vertritt durchaus die Position des progressiven gebildeten Bürgertums. Aber er vergisst keineswegs die unterprivilegierte Mehrheit der 'arbeitenden Klassen', die er bereits von der Bildungselite der 'reflektierenden Klassen' unterscheidet (ohne allerdings die Plebejer des vierten Standes damit zu meinen, der im 19. Jahrhundert das Industrieproletariat stellen wird).

Bildung benötigt Freiräume, freies Denken, freies Reden, freie Zeit. Weswegen dem liberalen Verfechter einer zukünftigen deutschen Republik auch durchaus um die Sicherung der materiellen Existenz als Voraussetzung von Muße zu tun gewesen, also von Freizeit für rationale Aufklärung und emotionale Sensibilisierung: 'Der Mensch ist noch sehr wenig, wenn er warm wohnt und sich satt gegessen hat, aber er muss warm wohnen und satt zu essen haben, wenn sich die bessere Natur in ihm regen soll." (Bolten, S. 50 ff). Das klingt fast brechtisch; "Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral." Wie solche Freiräume für allgemeine Menschenbildung politisch durchzusetzen seien, ist noch nicht Schillers Thema. Schließlich hatte er noch nicht Marx gelesen und kannte noch keine Gewerkschaften. Aber dass Geistesfreiheit von Wohlstand und Freizeit abhing, dass hatte er begriffen, weil am eigenen Leibe erfahren: Als einer der ersten freien Schriftsteller in Deutschland rackerte sich unser Klassiker mit magerem ökonomischen Ergebnis publizistisch ab und hätte zur Zeit der Entstehung seiner Ästhetischen Erziehung ohne die Unterstützung von Freunden und Förderern weder sich noch seine Familie ernähren können, noch die arbeitsfreie Zeit gefunden, sein bedeutendes Lebenswerk zu schaffen. - Kein Vergleich mit Goethes gut bezahltem Ministerjob samt beträchtlicher Dispositionszeit.

Es macht wenig Sinn, das komplizierte transzendental-philosophisch inspirierte Argumentationsgefüge der Schillerschen Ästhetischen Erziehung hier ausführlich auszubreiten. Doch soll auf eine knappe Darlegung nicht verzichtet werden. Der Humanist Friedrich Schiller hat vor rund zweihundert Jahren versucht, der Verwissenschaftlichung des Denkens, der Bürokratisierung des feudalen Staatsapparates, der arbeitsteiligen Spezialisierung der Berufe, der raffgierigen Merkantilisierung des Bürgertums, der durch erschöpfende Berufsarbeit verursachten Bildungsferne der Mehrheit der Bevölkerung, deren sittlicher Verwilderung unter revolutionären Bedingungen nicht weniger als unter den erniedrigenden Lebensumständen im Feudalismus, dem Sittenverfall der höfischen Kultur wie der fundamentalistischen Arroganz selbsternannter Machteliten, - all diesem hat er seine reformerische Erziehungskonzeption entgegenzusetzen versucht. Seine Diagnose der vorkapitalistischen Gesellschaft, die die Individuen der Entfremdung preisgab, hat die gesamte idealistische Philosophie und darüber hinaus noch Marx und Engels inspiriert. Der zweckrationalen Kultur nutzorientierten Denkens und Handelns, die die darin befangenen Menschen ihres 'Selbstzwecks' beraubt, stellte Schiller die wertrationale Kultur weltbürgerlicher Gesinnung und staatsbürgerlichen Engagements gegenüber, der eigennützigen Lustorientierung der Individuen die universale 'Übersinnlichkeit' der von der Aufklärung vertretenen allgemeinen Vernunftprinzipien der Humanität.

Schiller versuchte aber auch schon, wie später Sigmund Freud, diesen anthropologischen Dualismus von Materie und Geist, Sinnlichkeit und Vernunft, Neigung und Pflicht, letztlich von individueller Triebbefriedigung ("Es") und gesellschaftlichem Normenzwang ("Über-Ich") zu überwinden, der noch Kant zur Annahme einer naturgegebenen 'ungeselligen Geselligkeit' des Menschen veranlasst hatte. Zwischen die extremen Pole eines hedonistischen Individualismus und moralistischen Kollektivismus gespannt, sollte der Mensch die spielerische Balance einer ethisch-ästhetisch ausgewogenen eigenständigen Identität wagen. Das macht durchaus Sinn, entspringt doch die 'ästhetische Urteilskraft' laut Kant und (mit Hinweis auf diesen) auch Schiller einer Verbindung von mentalen und emotionalen Fähigkeiten des Menschen. Diesen durch ästhetische Wahrnehmung und Gestaltung umgänglicher, geselliger, friedfertiger machen zu wollen, ist deshalb so abwegig nicht, weisen doch Interaktionsrituale, lebensweltliche Sitten und Gebräuche in der Tat diese ethisch-ästhetische Mischkonsistenz auf. Dass die Zivilisierung zwischenmenschlichen 'Umgangs', das Stiften von Gemeinsinn, durch eine umfassende Ästhetisierung der Kommunikationsverhältnisse in die Wege zu leiten sei, gilt sogar Jürgen Habermas als starke Hypothese: Schiller habe sein Lebenskunstkonzept bereits auf kommunikative Vernunft bezogen und damit den 'Gegendiskurs der Moderne' noch vor Hegel eröffnet.

Die Ästhetische Erziehung des Menschen sollte aber nicht nur für das harmonisierende 'Schöne' in Natur und Kultur sensibilisieren, sondern auch für das ebenfalls darin auffindbare 'Erhabene'. Der Mensch dürfe sich nicht nur der beglückenden Sonnenseite des Lebens widmen, sondern müsse sich beizeiten auch mit dessen oft tödlicher Schattenseite, mit Schmerz und Unglück befassen, sich gegen das unberechenbare Schicksal wappnen oder für unaufgebbare Prinzipien einstehen. Er soll lernen, das Unvermeidliche zu ertragen und moralisch zu bewältigen. Nicht um Kunsterziehung also war es Schiller vor allem mit seiner normativen Wirkungsästhetik zu tun, sondern um praktizierte humanistische Lebenskunst. Damit das Schöne den Menschen bei seinem unablässigen Streben nach Triebbefriedigung und Lebensglück nicht seinen Anspruch auf Humanität vergessen ließe, soll er sich frühzeitig in dem üben, was bei ihm 'Resignation in die Notwendigkeit' heißt und offenbar in den marxistischen Freiheitsbegriff eingegangen ist. Seine Befürchtung ist, der Mensch würde in 'der Erschlaffung eines ununterbrochenen Genusses die Rüstigkeit des Charakters einbüßen", ästhetizistisch verweichlichen und schließlich das Durchhaltevermögen für langfristige politische Reformen verspielen. Schiller setzt auf einen Bürger, dessen Persönlichkeit nicht nur menschenfreundliche 'Anmut' auszeichnet, sondern auch frustrationstolerante ÄWürde', und der mit sozialer Phantasie und Charakterfestigkeit sein eigenes Leben, interpersonale Beziehungen und gesellschaftliche Konflikte meistert.

Ich habe also die doppelte Behauptung zu rechtfertigen: erstlich, dass es das Schöne sei, was den rohen Sohn der Natur verfeinert, und den bloß sensualen Menschen zu einem rationalen erziehen hilft; zweitens, dass es das Erhabene sei, was die Nachteile der schönen Erziehung verbessert, dem verfeinerten Kunstmenschen Federkraft erteilt und mit den Vorzügen der Verfeinerung die Tugenden der Wildheit vereinbart. (Bolten, S. 57)

Also soll der Mensch seine 'wilde' Aggressivität kulturell sublimieren, um angesichts des Entsetzlichen und Unverständlichen in Natur und Kultur moralische Energien mobilisieren zu können. Aus diesen speist sich dann jene geistige Widerstandskraft, die für die Bewältigung von Schicksalsschlägen und das Befolgen humanistischer Prinzipien - nicht nur in glücklichen Tagen, sondern auch unter belastenden Lebensumständen - unerlässlich sind.

Weder ist hier der Ort noch haben wir die Zeit, uns ein- gehender mit dieser faszinierenden humanistischen Lebenskunst zu befassen. Lassen wir's also damit bewen- den! Doch bin ich mir sicher, dass es an der Zeit ist, den exzessiven Hedonismus und ausufernden Ästhetizismus unserer eigenen Designer-Zivilisation hinter uns zu lassen und uns wieder auf die 'Grenzen der Menschheit' zu be- sinnen. Wir sollten unsere nach wie vor existente Abhän- gigkeit von der äußeren und inneren Natur ins Bewusstsein zurückrufen und die schicksalhafte Kettung an unhintergehbare Notwendigkeiten akzeptieren. Ihnen wer- den wir nie entkommen, mögen wir auch noch so kräftig ins Horn der 'Selbstbestimmung' stoßen.

Die Aufklärung des Verstandes, deren sich die verfeinerten Stände nicht ganz mit Unrecht rühmen, zeigt im ganzen so wenig einen veredelnden Einfluss auf die Gesinnungen, dass sie vielmehr die Verderbnis durch Maximen befestigt.... Mitten im Schoße der raffiniertesten Geselligkeit hat der Egoism sein System gegründet, und ohne ein geselliges Herz mit heraus zu bringen, erfahren wir alle Ansteckungen und alle Drangsale der Gesellschaft. Unser freies Urteil unterwerfen wir ihrer despotischen Meinung, unser Gefühl ihren bizarren Gebräuchen, unsern Willen ihren Verführungen; nur unsre Willkür behaupten wir gegen ihre heiligen Rechte. (Schiller, S. 580f)

Müssen wir uns diesen Schuh anziehen? Schiller meint hier natürlich die feudalistische Gesellschaft und nicht unsere spätkapitalistische, in der Kaufhöfe den Bürgern feudale Angebote machen, die jede Fürstentafel geziert hätten. Gemeint ist sicherlich nicht unsere global vernetzte Informationsgesellschaft, von der man nicht weiß, ob die Fülle ihres kommunikativen Umsatzes die Vernunft eher benebelt als erleuchtet. Oder trifft etwa auch noch auf die Bürger unseres bürokratisierten Rechtsstaats zu, dass es ihnen nur schwer gelingt, "ein geselliges Herz mit heraus zu bringen"? Laufen sie vielleicht auch ständig Gefahr, ihr "freies Urteil" der massenmedialen Geschmacksmanipulation und der Konsumwerbung zu unterwerfen? Der Neuhumanist ersetzte Religion durch Ästhetik und entwarf eine versittlichende Lebenskunst für säkularisierte Republiken. Um deren Bestand langfristig zu sichern, hielt er es für unerlässlich, dass der technisch-ökonomischen Fortschritt von einem gleichstarken soziokulturellen Fortschritt begleitet würde. Mag sich unsere Fortschrittsgläubigkeit nach den Erfahrungen der letzten zweihundert Jahre auch in Grenzen halten. Da uns der Weg zurück in eine mythisch umnebelte Prämoderne versagt bleibt und das Anything-goes der Postmoderne den rundum ökonomisierten Menschen trotz medialer Massenkommunikation in seiner 'splendid isolation' vereinsamen lässt, bleibt uns die Aufgabe erhalten, den zwischenmenschlichen 'Umgang' zu zivilisieren und die Gesellschaft mit menschenfreundlicher 'Geselligkeit' auszustatten. Bei beherrschbaren mittleren Katastrophen wie unserer 'Jahrhundertflut' mag die rebellierende Natur bereits dem dahinsiechenden Gemeinsinn aufhelfen. Um die uns bedrohenden weltweiten Umbrüche unserer Existenzbedingungen auch nur annähernd bewältigen zu können, werden wir jedoch das individualistische Prinzip 'Selbstbestimmung' langfristig und nachhaltig durch das gemeinnützige Prinzip 'Verantwortung' ergänzen müssen. Dass beide sich die Waage halten sollten, dass unser legitimes Verlangen nach einem glücklichen und schönen Leben nicht die Einsicht in die Notwendigkeit 'erhabener Gesinnung' gefährden darf, d.h. dem verpflichtenden Anspruch auf Vernünftigkeit und moralische Zuverlässigkeit genügen muss, das ist die schwer überholbare Botschaft der neuhumanistischen Ästhetischen Erziehung. Bei aller realistischen Skepsis gegenüber idealistischer Schwärmerei: Schillers Vorstellung eines republikfähigen Menschen, der Charme und Charakter miteinander verbindet, den Lebensfreude und mitmenschliche Liebenswürdigkeit nicht weniger auszeichnen als Standhaftigkeit im Unglück und engagierte Zivilcourage, hat etwas Bestechendes. Zumindest bleibt sie m.E. geeignet, als Messlatte für humane und demokratische Lebenspraxis zu dienen.

Literatur

Bolten, Jürgen (Hrsg.): Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 1984

Haasis, Hellmut G. (Hrsg.): Johann Benjamin Erhard, Über das Recht des Volks zu einer Revolution und andere Schriften. Reihe Hanser 36, München 1970

Schiller, Friedrich : Sämtliche Werke, Hanser Verlag, Band 5, 6. Auflage, München 1980

Noetzel, Wilfried: Humanistische Ästhetische Erziehung. Friedrich Schillers moderne Umgangs- und Geschmackspädagogik. Deutscher Studien Verlag, Weinheim 1992

Noetzel, Wilfried: Mit Charme und Charakter. Geschmackserziehung für die Republik? In: D.Grünewald / W.Legler /

K.-J. Pazzini: Ästhetische Erfahrung. Perspektiven ästhetischer Rationalität, Friedrich Verlag, Velber 1997, S. 397-409